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Aktualisiert: 28. Januar 2009
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Er ist eine Konstante in der deutschen Musikszene: Als Rockmusiker und Sprachkünstler, Poet und Komponist verbindet Heinz Rudolf Kunze immer wieder ungewöhnlich gute Rockmusik mit unerhört kreativer Poesie. Mit ungebrochener Produktivität und neuer Spielfreude haben Kunze und Verstärkung eine neue Single eingespielt: Längere Tage, eine musikalisch dichte Rockballade, die eine behagliche, bisweilen nachdenkliche und doch wohl gestimmte Atmosphäre einfängt. Ein Lied für den Winter. Und ein Plädoyer für Langsamkeit. „Es ein Lied für den kostbareren Umgang mit Zeit,“ meint Kunze. „Man wünscht sich einfach längere Tage im Sinne von besser ausgenutzten Tagen: nicht so viel Zeit nebenbei verschwenden, sondern einfach alles, was man im Leben noch an Zeit hat, ganz bewusst ausnutzen und auskosten.“ Kunze selbst richtet den Blick dazu ausdrücklich nach vorn: So wirkt Leo Schmidthals, seit 2002 als Bassist an der Seite von HRK, nun als Komponist und Produzent an vorderster Stelle beim neuen Kunze-Album Protest mit. Kunzes langjähriger Weggefährte Heiner Lürig hat sich hingegen aus der Zusammenarbeit bei der CD-Produktion zurückgezogen und konzentriert sich künftig auf neue Musicals.
Kunze, der Rock-Poet
Angefangen hatte es recht beschaulich auf dem deutschen "Pop-Nachwuchs-Festival" in Würzburg 1980, als Kunze seine Singer/Songwriter-Fähigkeiten das erste Mal einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte, auf einem Barhocker sitzend, nur von Klavier und akustischer Gitarre begleitet.
Der junge Germanist bekam vom Plattenkonzern WEA sofort den ersten Fünfjahresvertrag. Während Kunze heute als "Mister Deutschrock" durch die Talkshows tingelt, nannte ihn seine Plattenfirma damals noch den "Niedermacher". 1981 legten Kunze und Verstärkung das erste Album vor: Reine Nervensache. Einem größeren Publikum wurde der wortgewandte Musiker 1984 bekannt, als er mit Lola einen alten Kinks-Klassiker ins Deutsche übertrug. Bis dahin waren vier Studioalben und ein erster Live-Mitschnitt erschienen: Eine Form von Gewalt (1982); Der schwere Mut (1983); Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde (live 1984); Ausnahmezustand (1984). Inzwischen wußte man auch, wer Kunze war. Längst hatte er die ersten Auszeichnungen entgegengenommen: 1982 den Kleinkunstpreis "Berliner Wecker" sowie den "Willy-Dehmel-Preis" im Rahmen des SWF-Liederfestivals, 1983 den Deutschen Schallplattenpreis für Eine Form von Gewalt.
Daß der intellektuelle Rock-Poet mal so richtig in die Charts einsteigen würde, das hatten viele nicht erwartet. Doch mit Dein ist mein ganzes Herz (1985) gelang dieser Durchbruch. Mitverantwortlich für den großen Erfolg von HRK & Verstärkung zeichnet seither Lead-Gitarrist, Komponist und Produzent Heiner Lürig. Die 80er wurden erfolgsverwöhnte Jahre. Hier entstanden Kunze-Klassiker, die bis heute auch dem Nicht-Fan in den Ohren klingen: Finden Sie Mabel, Mit Leib und Seele, Alles was sie will und andere mehr. Als weiterer Preis folgte 1987 der "RTL Sonderlöwe" in der Sparte "Neues Deutsches Lied". Mit HRK war fortan im Deutsch-Rock zu rechnen. Ausgedehnte Tourneen, ausverkaufte Hallen, sichere Charts-Plazierungen. An das Erfolgsalbum Dein ist mein ganzes Herz reihten sich in schneller Folge: Wunderkinder (1986), Deutsche singen bei der Arbeit (live 1987), Einer für alle (1988), Gute Unterhaltung (1989), Brille (1991). Allein 1987 gab es 70 Konzerte, darunter drei mit je 40.000 Besuchern in der ehemaligen DDR. Kunze 1997 im Rückblick: "Ich habe Ende der 80er, Anfang der 90er ein so hektisches Musikerleben geführt, daß ich überhaupt nicht mehr zur Ruhe kam."
Bei alledem blieb der Streiter für intelligenten Deutschrock seinen eigenen Maßstäben treu. Auch wenn die Melodien eingängiger und die Liedstrophen knapper wurden, was die Texte anging, konnten sich Fans und Kritiker weiterhin die Finger lecken: "Wie fühlt man sich als Schnee von morgen. Als Bombe, die nicht richtig tickt. Als Teilchen ohne Masse, als Bester ohne Klasse, als Welt, die nie das Licht erblickt" (Heul mit den Wölfen, 1989).
Wie sehr sich ein Heinz Rudolf Kunze wandeln kann, bewies das Album Draufgänger 1992. HRK präsentiert hier krachenden Gitarren-Rock, deutlich beeinflußt vom düsteren Grunge der beginnenden 90er. Ein wildes, lautes, unruhiges Album, auf dem Kunze auch erstmals deutsch-deutsche Befindlichkeiten nach der Wende aufnimmt (Verraten und verkauft, Held der Arbeit). Eine Geschichte, mit der er auch persönlich verbunden ist: Immerhin stammt seine Familie aus Guben bei Frankfurt/Oder, und Heinz Rudolf Kunze selbst wurde am 30. November 1956 im Flüchtlingslager Espelkamp geboren.
Wie immer steht seine Kunst der Deutung offen, wie immer fordert sie zur Auseinandersetzung. Wer wollte schon Lieder hören, die nur eine Botschaft haben? 1994 setzt Kunze: Macht Musik wieder stärker auf musikalische Vielfalt: Opulente Chöre, überraschende Rhythmuswechsel, sekundenlang ausschwingende Gitarren, dazu wimmernde Hammondklänge und magische Mellotron-Töne. Es ist zugleich das letzte Album mit der alten Verstärkung (Martin Huch: Gitarren; Thomas Bauer: Keyboards; Josef Kappl: Bass; Peter Miklis: Drums), vielleicht Schlußpunkt einer Epoche, die mit Dein ist mein ganzes Herz begonnen hatte.
Das Jahr 1996 markiert einen Einschnitt. Kunze unterzieht sich seinem Album Richter-Skala einer musikalischen Frischzellenkur: Neben Heiner Lürig (Gitarren) bilden von nun an Raoul Walton (Baß) und CC Behrens (Drums) den Kern der Verstärkung, als besondere musikalische Gäste treten Jean-Jacques Kravetz (Keyboards) und Stuart Gordon (Violine) hinzu. Laut Musik Express/Sounds ist Kunze mit Richter-Skala an dem Punkt angelangt, "an dem die eigene Arbeit der seiner Idole ebenbürtig ist" (zu vergleichen etwa mit The Who, Led Zeppelin, Neil Young, Wire, Velvet Underground und andere). Nach diesen vorwiegend schroffen, rockigen Tönen folgt bereits 1997 die andere Seite des neuen HRK: Auf alter ego gibt sich Kunze "poppig", "eingängig" und "leichtfüßig" – so die Schlagworte in den Kritiken. Jean-Jacques Kravetz ist bei den Studioaufnahmen wieder mit von der Partie, live tritt 1997 Matthias Ulmer an den Keyboards der Verstärkung bei. Das dritte Album in dieser Besetzung beschert Kunze und Band neuen Erfolg: Korrekt zeigt sich musikalisch voll auf der Höhe der Zeit, bietet gradlinigen Rock, wunderbare Balladen, und eine neue Hit-Single aus der Feder von Heiner Lürig (Aller Herren Länder). In der Folge erhält Kunze "RSH Gold", die "goldene Stimmgabel" und den Fred-Jay-Preis. 2001 erscheint der Nachfolger Halt. Kunze und Verstärkung nehmen diesmal Ideen von außen hinzu: Chris von Rautenkranz produziert vier Titel auf dem neuen Album, das sich mit Texten und Kompositionen des langjährigen Teams Kunze/Lürig noch einmal in den Top-10 der Album-Charts platzieren kann. Wie ein Exkurs wirkt heute das musikalische Experiment aus dem Jahre 2003: Für die CD Rückenwind verlässt HRK das heimische Studio und die bewährte Produktion. Unter der Regie von Franz Plasa entsteht in Hamburg ein Album mit eigener Note, das neue Akzente setzt und dennoch ein Kunze-Werk bleibt.
Bei allen Veränderungen im Laufe der Jahre bleibt eines bestehen: An deutschsprachiger Lyrik gibt es nichts Vergleichbares. Ausgefallene Wortspiele und neu geschaffene Metaphern; Geschichten, die typisch Deutsches aufspüren; Beobachtungen, die dem Alltagswahnsinn nachgehen; Balladen, die ungewöhnliche Beziehungsbilder malen ... all dies bleibt Markenzeichen von HRK, all dies hebt die Arbeit des Literaten und Musikers bis heute wohltuend von plattem Schlager-Gerocke ab. Das gilt auch für Das Original, die CD aus dem Jahre 2005, die Kunze wieder mit Heiner Lürig einspielt. Musikalisch stehen neben Matthias Ulmer (Keyboards) seit 2003 weiterhin Jörg Sander (Gitarren), Jens Carstens (Schlagzeug) und Leo Schmidthals (Bass) an seiner Seite. Diese neue Produktion wird erstmals unter dem Dach von BMG veröffentlicht. Ihr folgt zum Ende des Jahres eine hochwertige DVD/CD-Box Man sieht sich – 25 Jahre HRK. Sie bietet eine fast dreistündige Aufzeichnung eines Jubiläumskonzerts vom 21. und 22. Dezember 2004 in Hannover sowie über anderthalb Stunden Bonusmaterial und eine Live-CD. 50 Jahre und kein bißchen müde präsentiert Kunze im Januar 2007 das Album Klare Verhältnisse. Offen und unverbraucht zeigt Kunze noch einmal, was möglich ist. Die Songs Guten Tag Traurigkeit und Sowas ähnliches wie Liebe werden wieder im Radio gespielt. Mit dem Titel Die Welt ist Pop nimmt Kunze im März am Grand Prix Vorentscheid in Hamburg teil. Die Tournee erfolgt in zwei Teilen: Einmal gewohnt laut, rockig, breitbeinig, in Hallen, wo man steht und schwitzt, in der Fortsetzung leiser, zurückhaltend, an besonderen Orten und in Konzertsälen, wo man sitzt. Titel des Experiments: „Klare Verhältnisse Intimbereich“.
Auch darüber hinaus ist Kunze viel unterwegs, sei es auf Lesereise oder auf Konzerten zusammen mit Purple Schulz. „Gemeinsame Sache“ ist der Titel einer eigenen Konzertreihe mit dem befreundeten Kollegen.
Kunze, der Literat
Wer je ein Live-Konzert von Heinz Rudolf Kunze besucht hat, weiß es längst: Der Sprachkünstler präsentiert dort nicht nur lauten Rock'n'Roll, sondern auch leise Töne in literarischer Form: Lyrisches und kurze Prosastücke. Dies war schon immer sein Spielbein, Markenzeichen eines jeden Kunze-Events. Bereits 1978 wurde Kunze mit dem Literatur-Förderpreis seiner Heimatstadt Osnabrück ausgezeichnet. Bis heute sind acht Bücher von ihm erschienen: Deutsche Wertarbeit (1984; Zweitausendeins), Papierkrieg (1986; Rowohlt), Mücken und Elefanten (1992; Bouvier), Nicht daß ich wüßte (1995; Ch. Links), Heimatfront (1997; Ch. Links), Klärwerk (2001; Ch. Links), Vorschuss statt Lorbeeren (2003, Ch. Links) und 2005 das aktuelle Buch Artgerechte Haltung (Ch. Links). Mit zwei literarischen Programmen ist Kunze über Deutschlands Kleinkunstbühnen gezogen: Sternzeichen Sündenbock (1991) und Der Golem aus Lemgo (1994). Aus dem Spielbein ist so ein zweites Standbein geworden. Das zeigten zum Teil ausgedehnte Lesereisen und die Tour zum dritten "anderen" Album Wasser bis zum Hals steht mir, die im Frühjahr 2002 in der ausverkauften Semperoper in Dresden endete. Heute wird Kunze bei seinen musikalischen Lesungen von Wolfgang Stute begleitet. Unplugged, aber mit ganzer Sprachgewalt liest Kunze seine Texte, singt und spielt seine Lieder. Mit dem musikalischen Hörbuch Kommando Zuversicht (2006) wird Kunzes Vielseitigkeit erneut eindrucksvoll dokumentiert. Das aktuelle Buch Ein Mann sagt mehr als tausend Worte (2007) setzt die Reihe fort.
Das Gesamtwerk wächst. Im März 1999 erschien erstmals ein Buch über Kunze mit dem Titel heinz rudolf kunze: agent provocateur (Satzwerk Verlag), ein Bildband mit über 100 Fotos in limitierter Auflage mit einer Sonder-CD, die bisher unveröffentlichte Live-Titel und Sprechtexte enthält. 2005 legte der Autor Holger Zürch mit Silbermond samt Stirnenfuß eine erste journalistische "Bestandsaufnahme" vor. Und passend zum 50. Geburtstag erscheint 2007 eine erste ausführliche Biographie Heinz Rudolf Kunze Meine eigenen Wege.
Manche Kritiker stellen ihn in eine Reihe mit Rilke, Tucholsky, Ringelnatz, Morgenstern, Benn oder Benjamin und anderen Größen der deutschsprachigen Literatur. Vergleiche hinken, doch soviel ist sicher: Die Texte des Autors bieten außergewöhnliche Dichtkunst. Kunze selbst hat bei sich eine Nähe zum Kabarettisten Wolfgang Neuss ausgemacht: "Mich fasziniert seine Technik, Worte zu knacken, ihnen durch andere Zusammensetzungen neuen Sinn zu geben." Bei Kunze trifft das Mystische auf das Banale, die Philosophie auf den Alltag, die große Geschichte auf das kleine Einmaleins. Seine Themen sind vielfältig und doch kehrt manches wieder: Deutschland, die Eltern, die Kirche, die Liebe, die Couch des Therapeuten, dazu Sex, Tennis, Fernsehen, alltäglicher Kleinkram. "Ich bin kein politischer Kabarettist, ich bin ein Phänomenologe. Ich fange wirklich ganz unten bei sinnlichen Wahrnehmungen an und versuche mir da den Alltag zusammenzusetzen und komme so manchmal auch sehr nahe an das heran, was für die Menschen wirklich und existentiell bedrohlich und schön und sinnlich ist."
Kunze, der Mann hinter den Musicals
Was viele nicht wissen und doch hören: Heinz Rudolf Kunze ist auch der Übersetzer erfolgreicher Musicals. So stammten zunächst die deutschsprachigen Versionen von Les Miserables (1987) und Miss Saigon (1994) aus der einfühlsamen und kreativen Feder des Übersetzers Kunze. Für beide Werke erhielt HRK inzwischen eine Goldene Schallplatte. 1996 folgte Andrew Lloyd Webbers Joseph, hierfür wurde der wortgewandte Deutsch-Rocker 1998 mit dem Musical-Preis "Image" ausgezeichnet. Die Reihe fand in einem vierten Werk ihre Fortsetzung: Als sich am 25. Februar 1999 in Düsseldorf der Vorhang zum US-Erfolg Rent von Jonathan Larson hob, stammten die deutschen Lyrics wiederum von niemand Geringerem als Heinz Rudolf Kunze. Multitalent Kunze ist somit inzwischen der vielleicht gefragteste Musical-Übersetzer in Deutschland.
Längst gibt es die ersten Werke aus eigener Feder: Im August 2003 feierte auf der Bühne des Gartentheaters Herrenhausen das Musical Ein Sommernachtstraum Premiere. Heinz Rudolf Kunze lieferte den originellen Text zu Shakespeare's Theaterstück, Heiner Lürig komponierte die eingängige Musik. Aufgrund des großen Erfolgs wurde das Musical von 2004 bis 2006 immer wieder ins Programm aufgenommen. Unter dem Titel Poe – Pech und Schwefel wurde schließlich im Oktober 2004 ein gleichsam "literarisches" Musical am Staatstheater Saarbrücken uraufgeführt. Frank Nimsgern lieferte die Kompositionen, sämtliche Texte stammten wieder aus der Feder von Heinz Rudolf Kunze. Inzwischen haben Kunze und Lürig das zweite Shakespeare-Musical geschrieben. Im Sommer 2007 wurde an der bewährten Spielstätte in Hannover Kleider machen Liebe oder: Was ihr wollt aufgeführt und wieder begeistert aufgenommen. Eine CD zum Musical wurde im November veröffentlicht.
Das alles und noch viel mehr ...
... ist von Kunze, Heinz Rudolf, zu berichten. Nicht die Rede war von dem Musikjournalisten Kunze, der über manche Mitstreiter im internationalen Rock-Geschäft geschrieben hat und mit Neil Young eines seiner eigenen Vorbilder interviewte; auch nicht von dem Songwriter Kunze, der Herman van Veen, Mario Adorf und anderen seine Texte leiht; auch nicht vom Deutschrock-Nachwuchs-Chancengeber, der junge Bands ermutigt, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken und sich in der Bundestags-Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" engagierte.
Man darf gespannt sein, was die Kreativität von Heinz Rudolf Kunze für die Zukunft noch bereithält: Kunze als Schauspieler in der Fernsehserie In aller Freundschaft? Kunze als Gastdozent im Studiengang „Popularmusik“ an der Fachhochschule Osnabrück? Kunze zusammen mit Tobias Künzel (Die Prinzen) als Sprecher auf einem Hörbuch in der Reihe Laut gegen Nazis? Kunze mit einem Auftritt in der Semperoper in Dresden? Kunze als Preisträger des Niedersächsischen Staatspreises? All das hat es in jüngster Vergangenheit gegeben.
Doch zur Zeit ist HRK mit seiner Verstärkung wieder im Studio. Die neue Single ist auf dem Markt, CD und Tour folgen Anfang 2009. Es bleibt dabei: Von den Bühnen deutschsprachiger Rockmusik ist Heinz Rudolf Kunze wohl auch in Zukunft nicht wegzudenken.
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