Cover des Albums "Dabeisein ist alles"

2003

Dabeisein ist alles – Live 2003

Drei Livealben gibt es bisher von Heinz Rudolf Kunze. Da wäre zunächst Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde, ein brillantes Zeitzeugnis aus dem Jahr Eins nach der „geistig-moralischen Wende“. Ein depressiver Zyniker hockt weltschmerzend hinter dem Piano und spuckt Gift und Galle gegen Zeit und Geist der Kohl-Republik. Nur drei Jahre später avancierte der „Niedermacher“ a.D. mit dem plakativ altmodisch-spießigen Äußeren zum real existierenden Popstar. 1987 gab Deutsche singen bei der Arbeit (mitgeschnitten auf der „Wunderkinder“-Tournee 1986/87) Zeugnis von der Wandlung des kopflastigen Oberlehrers zum lustvollen Rock’n’Roller. Kunze und Band verpackten ihre Klassiker in bombastische Arrangements und schockierten die durch Dein ist mein ganzes Herz gewonnenen Kurzzeit-Fans mit bitterbösen Texten der Sorte Für nichts und wieder nichts, Maikäfer flieg oder Nachts um halb Drei.

16 Jahre später kocht Kunze auf kleinerer Flamme. Die Hochzeit des Deutschrock ist lange, lange vorbei; doch der in Osnabrück geborene und in Hannover lebende Geschichtserzähler klingt auf Livealbum Nummer Drei jünger denn je. Dafür trägt vor allem seine neue „Verstärkung“ die Verantwortung. Nach rund 18 Jahren harmonischer und zutiefst kreativer Zusammenarbeit trennte sich HRK von seinem bisherigen Gitarristen und musikalischen Direktor Heiner Lürig und versammelte junge, so attraktive wie aktive Musiker der blühenden Hamburger Schule um sich. Schon das im Frühjahr diesen Jahres veröffentlichte Studioalbum „Rückenwind“ zeigte einen vollkommen runderneuerten Heinz. Gemeinsam mit Jörg Sander (git), Leo Schmidthals (b) und Jens Carstens (dr) – nur Keyboarder Matthias Ulmer wurde aus der bisherigen Liveband übernommen – begab sich der bebrillte Rockzyniker im Frühjahr diesen Jahres auf große Deutschlandtournee: 18 Städte, 18 mal ein Abend voller gesunder Unterhaltung, 18 mal alles geben, 18 mal ein Publikum, das schon wenige Minuten nach Konzertbeginn in Jubelstürme ausbrach. Beim Heimspiel in Hannover entstand Dabeisein ist alles – Live 2003 (WEA), das vierte Livealbum von Heinz Rudolf Kunze & Verstärkung. 24 Songs aus 20 Jahren Kunze begeistern auf zwei CDs die Fans, die seit Jahren treu zu ihrem politisch very unkorrekten Idol stehen. Der Sprachkünstler und „Mann des vorigen Jahrhunderts“ (Selbsteinschätzung) wettert wie eh und je in deutlichen Worten gegen den sich zunehmend oberflächlicher gerierenden Zeitgeist. Anders als 1983, bei den „schlafenden Hunden“, hat Kunze 20 Years after jedoch eine Band im Rücken, die seine Sehnsucht nach der guten, alten Zeit – diesmal wird, satirisch wie immer, den 80er Jahren (Kunzes einziger Hitphase) gehuldigt – mit brennender Spielfreude und klanglich topaktuell untermalt. Ein komplettes Konzert wurde für Dabeisein ist alles ohne unnötige Schnitte und nahezu gänzlich ohne Nachbearbeitungen im Studio festgehalten. Heraus kam dabei ein grandioses Stück deutscher Rockmusik, das alle Facetten des sensiblen Hochbegabten geballt an den Tag legt.

Los geht’s mit insgesamt sieben Songs aus Rückenwind, die zwar alle von Kunze mit den ihm typischen, beißend ironischen Texten versehen wurden, aber erstmals nicht von Heiner Lürig, sondern von jungen Hamburger Szenestars wie Niels Frevert (Ex-Nationalgalerie) oder Christian Neander (Ex-Selig) komponiert wurden. Sei es der brodelnde Hardrocker Himmelfahrtskommando, die aufputschende, aufpeitschende Überlebenshymne Da müssen wir durch oder das fordernd/verschämte Liebeslied Mach auf im Klang amerikanischer Melodic Rocker der späten 80er. Der bitterböse Zeitgeistverächter HRK zeigt sich in Schön und gut, einer musikalisch plakativ windelweichen, aber lyrisch berstend zynischen Abrechung mit dem Äußerlichkeitenfetischismus der heutigen Zeit. Die Fans johlen so hingerissen, daß sich Schön und gut als erster realer Kunze-Ewigkeitshymnus im neuen Jahrtausend entpuppen dürfte. Nach und nach geht’s zurück in bessere Zeiten: Kunze streift mit der vertrackten Ballade Manchmal kurz das unterschätzte 96er-Album Richter-Skala, bevor er sich, seiner Band und vor allem den Beinhart-Fans im Publikum die Freude bereitet, erstmals seit Ewigkeiten das bitterböse „Balkonfrühstück im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd“, musikalisch verbunden mit Wir leben alle im Erdgeschoß, live zu präsentieren. Zwar vergißt HRK (absichtlich?) die zynischsten Strophen der akustischen Folkode– trotzdem ist eindeutig zu ersehen, daß auch solch verschrobene Frühwerke lyrisch weiterhin von erschreckender Aktualität sind.

Stets brilliert Kunze „live“ mit herrlich bösen Zwischentexten, die sich 2003 nicht nur um die „geilen 80er“ („... von Revival sprechen wir frühestens, wenn ich in den Achtzigern ankomme und Nena heirate!“) oder den Hochzeitstag eine alternden, spießbürgerlichen Ehepaars („... eher vergesse ich mich, als unseren Hochzeitstag“), sondern auch um einen „großen, blonden und sehr blauäugigen“ amerikanischen Austauschschüler aus Kunzes Gymnasialzeit in den 60ern, der von einer alten Dame mit dem Regenschirm für die alliierten Bombenangriffe auf Osnabrück verdroschen wurde und heutzutage – offenkundig immer noch „sehr blauäugig“ – in der Washingtoner Regierung sitzt und sich wundert, wenn irakische Frauen ihn mit ihrem Schirm eins über die Mütze hauen. Für seinen 99er-Radiohit Alle Herren Länder schrieb Irak-Kriegs-Gegner Kunze zwei zusätzliche Strophen, bevor wir CD 2 dem Abspielgerät zufügen müssen, und Kunze endlich und endgültig in den 80ern ankommt. Zwar heiratet er gottlob nicht Nena, aber greift dafür tief in die Schatzkiste und präsentiert eine fein dosierte Mischung aus Gassenhauern (Dein ist mein ganzes Herz, Finden Sie Mabel, Alles was sie will, Meine eigenen Wege) und unbekannteren, lyrisch schwermütigeren Songs jener Tage (Folgen Sie mir weiter, Vertriebener, Ich hab’s versucht). Dazu die selbstironische Fanbeschimpfung Ich glaub es geht los („Guten Abend Grugahalle / Fühlt Ihr Euch im Recht? / Ich weiß, es interessiert Euch nicht / aber mir ist schlecht!“), den aufmunternden Hardrockeinstieg in die gnadenlos uncoolen 90er Draufgänger („Du hast die Wahl der Qual / Vielleicht nur dies eine Mal: Draufgeher oder Draufgänger“) und den genauso abgeklärten wie liebevollen Gefühlsausbruch Alles gelogen („all diese Jahre... die vor uns liegen... “). Solche lyrischen Höhepunkte gelingen dem Deutschesten aller deutschen Rockmusiker heutzutage nur noch selten – trotz jugendlicher musikalischer Begleitung durch Studioasse, die, wäre er etwas frühreifer gewesen durchaus Kunzes Söhne sein könnten, trotz forscher, ab und zu durchaus moderner Rhythmen und krachender Gitarrenklängen, bleibt HRK ein immerwährendes Kind der Nachkriegszeit zwischen ‚Flüchtlingslager Espelkamp’ und ‚Kuratorium Unheilbares Deutschland’. Ohne Bitterkeit, aber stets wehmütig, verklärend, aber nie platt und unironisch, läßt Kunze auch 2003 seiner Verachtung für das Jetzt und Heute freien Lauf – ohne seine mahnende Worte, ohne seine brutalstmögliche Weigerung, sich der plumpen, schnellebigen, oberflächlichen Unkultur der Gegenwart auch nur ein Fünkchen anzupassen, würden wir 80er-Kinder, wir Alt-86er, wahrscheinlich bald unter das Gesetz zum „Minderheitenschutz“ fallen. Kunze kommt alle paar Monate mit einer mal hervorragenden, mal genialen, aber so gut wie nie ganz miesen Platte und feiert mit uns unsere Zeit. Dabeisein ist alles – der Titel dieses bisher unveröffentlichten, musikalisch an Aerosmiths angelehnten Mottos der fast 130minütigen Doppel-CD – macht uns stolz, „dabei“ gewesen zu sein, im vorigen Jahrhundert, in den 80ern, als alles zwar nicht anders war, aber einfach besser!

Gesamtnote: 1 (wie immer bei Kunze-Platten!)

Holger Stürenburg, www.hithaus.de, 5. November 2003

Copyright & Datenschutz Heinz Rudolf Kunze Top