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"Ihr seid befreundet, sagst du?"
"Ja. Heinz ist mein Freund. Aber je länger wir uns kennen, desto weniger verstehe ich ihn."
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Ein Stein, den keiner finden soll
Anmerkungen zu Heinz Rudolf Kunzes Platte Korrekt
Die letzten Tage des Jahrhunderts werden nicht die letzten Tage der Menschheit sein. Doch was 1999 in der Kunst hervorgebracht, in der Politik vollzogen und in der Gesellschaft entwickelt wird, ist der besonderen Aufmerksamkeit des Publikums gewiß, das so langsam in Fin-de-siècle-Stimmung kommt.
Deshalb wirkt die strategische Entscheidung, Heinz Rudolf Kunzes neues Album Korrekt erst 1999 zu veröffentlichen, obwohl die Platte im Rohbau schon vor einem Jahr stand, als sei sie höheren Ortes getroffen worden. Denn Korrekt ist Kunzes Abschied vom 20. Jahrhundert. Das Album ist eine doppelte Bilanz dieses in vieler Hinsicht schrecklichen Jahrhunderts, das in seiner zweiten Hälfte auch das Jahrhundert der Rockmusik war. Musikalisch umspannt Korrekt den Zeitraum von den 50er Jahren (Himbeerbaby) bis zu den ausgehenden 90ern (Der Kaiser soll mir sagen wer ich bin). Die dazwischenliegenden Jahrzehnte bringt Kunze vermittels seines gewohnt enzyklopädischen Umgangs mit der Rockgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der 60er und 70er Jahre in Erinnerung. Noch immer ist sein musikalischer Kosmos bevölkert von den herrlichen Rohheiten der Who und den etwas dumpferen der Black Sabbath, von der lakonischen Präzision des Lou Reed, vom Orgelpomp derer von Procol Harum und Genesis, von den Extravaganzen Pere Ubus und der synthetischen Seelenwelt von Roxy Music. Die Aufzählung ist unvollständig und, wie immer, ohne Gewähr.
Schon in der Vergangenheit hat Heinz Rudolf Kunze sich gern als Zitatenschatzmeister der populären Musik betätigt. Was der Gitarre und Klavier spielende Sänger auf seiner neuen Platte treibt, geht jedoch über das stolze Vorzeigen neuer Fundstücke aus der Asservatenkammer des Rock, zu der der Besitzer abertausender CDs Zugang hat wie kaum ein anderer, weit hinaus.
In Sachen Rockmusik geradezu beängstigend kundig, destilliert Heinz Rudolf Kunze aus all dem Gehörten und Erlebten immer mehr etwas Eigenes, Typisches, Wiedererkennbares – ob man es nun mag oder nicht.
Daran hat seine Band wesentlichen Anteil. Zu der Stammbesetzung aus Heiner Lürig, Raoul Walton und CC Behrens ist vor zwei Jahren der Keyboarder Matthias Ulmer getreten. Der Pfarrerssohn aus dem Schwäbischen hat sich aus dem Stand als das pianistisch perfekte Alter ego des Heinz Rudolf Kunze erwiesen. Ulmer ist ein eminent fleißiger, variabler, zuverlässiger und schöpferischer Musiker. Mit keinem anderen wäre Stein, die große, vom Keyboard aus gesteuerte Ballade, die dem deutschen Kunstlied so nah kommt wie wenig andere Kunze-Lieder zuvor, so schön, ja, so erhaben geworden wie mit Matthias Ulmer. Kein Zweifel: er ist das beste, was Calw seit Hermann Hesse hervorgebracht hat.
Weil Heinz Rudolf Kunze dem Gitarrenrock ebenso zugetan ist wie den Zauberwelten aus der Keyboard-Burg, enthält Korrekt mit Die Peitschen auch ein knapp elfminütiges Hardcore-Stück, das man wohl am besten bei eingeschalteter Stroboskop-Lampe anhört. Es besteht aus der absonderlichsten Aufzählung von tatsächlich vorhandenen oder erfundenen Menschengruppen, die nur je ein Hirn zusammenzudenken vermag. Weit weniger erratisch ist die Rock-Nummer Himbeerbaby. "Die letzte Frau vor der Welt" könnte glatt die Nachfolge von Kunzes deutscher Lola von 1984 antreten. Auch ohne einen Blick in die Kristallkugel geworfen zu haben, lassen sich für den lustigen Song von der Weltraumdirne viele Radioeinsätze vorhersagen. Ähnliches dürfte auch Pech und Schwefel beschieden sein, das musikalisch spannungsreich und mit einer beneidenswert eingängigen Hookline gesegnet ist: "Für mindestens immer". Weniger darf ein Liebeslied allerdings auch nicht versprechen. Die Rückschau auf unser Jahrhundert wäre unvollständig ohne eine Reverenz an die 90er Jahre. Folgerichtig zieht Kunze bei Der Kaiser soll mir sagen wer ich bin die Kappe vor dem Rap. Und wenn Kunze rapt, dann ist das ungefähr so, als würde einem Christo die Weihnachtsgeschenke verpacken. Purer Snobismus. Aber köstlich.
Je besser, desto eher empfinde ich trotz der Kirmesmusik als das düsterste Stück auf Korrekt. Es gehört zu den weniger verklausulierten Liedern und klingt wie eine bittere Hymne auf den trostlosen Wunsch, am besten nie geboren worden zu sein. Ähnlich pessimistisch im Ton wirkt Der Wald vor lauter Bäumen: Das Ganze, das wir infolge der Verzettelung nicht mehr zu sehen vermögen, offenbart sich uns erst im Paradies. Das Wesentliche, der Daseinsgrund, tritt zurück, auch hinter den Ereignissen der Geschichte, die uns beschwert: "Sind wir verdammt zum Gedenken / sind wir geboren zum Sehn / Flügellahm unter Geschenken / Toter die uns überstehn." Wer mag, kann in diesen Zeilen Kunzes ganz ungeplanten Beitrag zur Walser/Bubis-Debatte sehen.
Ich behaupte nicht, daß ich seine Texte alle verstehe. Ich halte ihn für einen Dichter, der Stimmen hört. Sie jagen durch seinen Schädel, und er bringt sie alle zu Papier, Kopfgeburten, Sturzgeburten. Die Sprache ist sein Instrument, das er nie zu üben braucht. Er ist begnadet und verdammt. Seit bald 20 Jahren hält seine öffentlich wahrehmbare Produktivität unvermindert an. Einmal singt er von "neun Katzenleben / um sind sieben". In seinem Falle halte ich das für eine Untertreibung. Kunze lebt eher neun mal neun Katzenleben, und er lebt sie alle auf einmal. Zumindest in seiner Kunst. Diese Vielheit ist anstrengend, und sie kann den mutlos machen, der ihn zu fassen kriegen möchte, Kunze, den Unfassbaren.
Platten sind Psychogramme. Protokolle aus der verschachtelten Innenwelt eines Menschen, den man langsam zu kennen glaubt und der sich doch immer anders präsentiert. Die Mischung aus Ernst Jünger und Peter Pan, aus Altersweisheit und ewiger Jugend, aus Sarkasmus und Rebellion, Witz und Pathos, aus Lebenshunger und Lebensüberdruss, Todestrieb und Todesangst, bringt in Kunzes Texten immer neue Resultate hervor. Von seinen multiple choices macht Heinz Rudolf Kunze, diese ganz unpathologisch multiple Persönlichkeit, regen Gebrauch.
Ob er selber seine Texte immer versteht? Ich wette, es gibt welche, die sind auch ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Aber Heinz Rudolf Kunze respektiert die Autonomie seiner Eingebung, er betrachtet sie wie eine rätselhafte Form im Wassereimer nach dem Bleigießen zu Silvester. Manche Texte entstehen wohl in einer Art écriture automatique; sollen andere sich daran interpretatorisch die Zähne ausbeißen.
Keiner unserer Sängertexter besitzt auch nur annähernd so viel Sprachmacht wie Heinz Rudolf Kunze, und keiner geht mit dem Wort so halsbrecherisch um wie er. Fast jeder seiner Texte ist eine Ideenzentrifuge, in der sich Fundstücke aus Philosophie und Weltgeschichte, aus griechischer Götterwelt und deutscher Privatmythologie, aus Fernseh- und Zeitungssprache in einem oft gnadenlosen Reimwitz schwindlig drehen; aus den Kunze'schen Assoziationslabyrinthen gibt es oft kein Entrinnen. Was etwa soll "Die Außenwelt: Der Stunt der Dinge/Der Bundesgrinsschutz konzentriert die Sonderlinge" bedeuten (aus Das perfekte Verbrechen)? Bloße Kalauerei? Unwahrscheinlich. Ein Wortspiel? Was für ungemütliche Welten erschafft er sich zu der schon hinreichend unerträglichen realen Welt? Man lacht über seine Einfälle, etwas unsicher; was der sich dabei bloß gedacht hat? Kunze hat sich in der Sprache ein Versteck gebaut, in dem ihn niemand aufstöbern kann: "Ich bin ein Stein/Den keiner finden soll" (Stein).
Nirgends hat er sich bisher so offenbart wie in diesem Lied. Es erinnert an Einfach nur vorhanden sein, das schöne, fast Haydn'sch instrumentierte, im Ton den Klassikern nachempfundene Lied seiner LP Ausnahmezustand (1984).
Stein ist eine flehentliche Bitte um Sinn. Er sucht ihn nicht mehr, wie damals, "diesseits von den Worten", sondern jenseits, in der Naturhaftigkeit seiner selbst, in der Verbundenheit mit dem "brennenden Flussbett", das vielleicht eine Chiffre für die Liebe oder das Leben ist, wer weiß. Er sucht den Sinn im transzendenten Irgendwo, in einer anderen Zeit, in einem anderen Jahrhundert. Möge er ihn finden, vielleicht in seinem zweiundachtzigsten Katzenleben.
Tom R. Schulz, Frühjahr 1999
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