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1999

Jetzt mal im Ernst

Neue Platte: 1. März. Neuer Hut: schon jetzt – Heinz Rudolf Kunze hat das Wort und spricht im HAZ-Interview über Dichter, Dylan und Doppelpässe.

Herr Kunze, was ist Ihr Beitrag zum Goethe-Jahr?

Bleiben wir doch bescheiden: das neue Album. Aber im Ernst: Ich brauche kein Goethe-Jahr, um mich an ihn zu erinnern. Ich bin nicht goethe-süchtig, ich bin nicht Goethe-Jünger. Aber es gibt herausragende Texte, die mich sehr beschäftigt haben. Den Werther habe ich als junger Mensch gelesen, in einem beeindruckbaren Alter, und er hat mich schwer beeindruckt. Und die Wahlverwandtschaften sind einfach eine absolute Spitzenleistung deutscher Prosa. Besser kann man ein Prosa-Buch nicht bauen.

Das Video zur neuen Single ist gerade in den Herrenhäuser Gärten entstanden. Warum da?

Der Fotograf Nikolaj Georgiew wohnt da nebenan und hat den Schauplatz vorgeschlagen. Die Richard-Long-Installation in der Orangerie war ein sehr schöner, ein bißchen mythischer Hintergrund. Ein geeigneter Schauplatz für dieses relativ ernste Stück. Bisher haben wir bei Videos immer nur Komödien gemacht. Das verbietet sich hier. Es ist mir gar nicht leichtgefallen, ein ernstes Lied zu präsentieren. Das ist viel schwerer als vor der Kamera nur Blödsinn zu machen.

Wo werden wir das sehen?

Gedacht ist es weniger für die Popsender, weil die Plattenfirma meint, daß ich es da ziemlich schwer habe. Gedacht ist es als Trailer für Fernsehsendungen, in denen ich auftrete, damit man vorher was zeigen kann.

Aller Herren Länder ist ein Lied gegen Ausländerfeindlichkeit. Passend zur Doppelpaßdiskussion?

Das Lied war schon vor dieser Debatte fertig. Es klingt so, als hätte ich es nachgereicht. Ich hoffe, daß der eine oder andere, der es im Radio hört, sagt: "Moment mal, was war das denn?"

Wäre ein prima Wahlkampfthema gewesen.

Ich weiß nicht, ob es sich für den Wahlkampf eignet. Das Lied läßt sich ja nicht auf eine konkrete Doppelpaßdebatte ein. Es ist ein Plädoyer für Asyl, für Menschen, die konkret verfolgt sind. Die müssen in unser Land reingelassen werden aufgrund der besonderen Verpflichtungen, die Deutschland da hat. Ob jetzt der doppelte Paß ein probates Mittel ist, Integration von Ausländern herzustellen, muß man sehr behutsam diskutieren. Ich finde es gut, daß beide Seiten in Bewegung kommen und sich nochmal Gedanken machen. Denn ich glaube, es wäre nicht gut gewesen, die Ängste von zwei Dritteln der Bevölkerung einfach zu übergehen und ein Gesetz durchzupeitschen. Diese Ängste muß man schon ernst nehmen.

Den politischen Kunze ist man gar nicht mehr gewohnt.

Ich sehe das gar nicht so. Der politische Teil war ein wenig zurückgenommen, es gab ihn mehr in den gesprochenen Texten. Aber das kommt wieder.

Kann man 1999 überhaupt noch was bewegen mit politischen Texten?

Das kann man 1999 genausoviel oder wenig wie 1969. Man darf da von Liedern nie zu viel erwarten. Wenn man Lieder zu stark instrumentalisiert, läuft man Gefahr, daß die Lieder Knechte einer Idee werden und schnell wieder veralten. Lieder erreichen eher das Unterbewußte und sind keine konkrete Handlungsanweisung. Trotzdem ist Bob Dylan für die amerikanische Geschichte wichtiger als Richard Nixon. Und so sehe ich mich auch.

Wie bitte?

In einer parallelen Situation. Künstler können langfristig, was die Stimmung, das Lebensgefühl und die Haltung von Leuten angeht, doch mehr bewirken als irgendein konkreter Politiker.

Nimmt die neue Regierung ein bißchen die Luft raus? Kaberettisten klagen, ihnen fehle das Ziel.

Im ersten Moment scheint das so. Aber wenn die Regierung so weitermacht wie in den ersten 100 Tagen, wird sie noch genügend Angriffsflächen bieten.

Könnte diese Legislaturperiode vergehen, ohne daß Sie ein Lied oder einen Text darüber geschrieben hätten?

Ich habe gerade einen Text für die Tour beendet, der sich mit den ersten 100 Tagen und den vollmundigen Versprechen beschäftigt, insofern hat mir die Regierung schon Futter gegeben. Natürlich ist es zu früh, sie dann schon abzuschreiben. Allerdings bin ich an diese Regierung nicht mit Überschwang herangegangen. Ich bin eh Pessimist und freue mich, wenn unterm Strich mehr herauskommt, als ich denke.

Erwarten die Leute, daß Sie was dazu sagen?

Ja. Die Leute gehen etwas ratlos raus, wenn ich mich nur in Bilderlabyrinthe verirre und mich völlig vom alltäglichen Geschehen abseile. Ich sehe ja die Erwartungen in den Gesichtern, da habe ich schon eine künstlerische– keine moralische– Verpflichtung.

Auf "Korrekt" ist eine Nummer von Pink-Floyd-Länge, die klingt wie eine Auflistung aus dem Spontante-Gedanken-Notizbuch.

Ja, das Lied Die Peitschen ist der Versuch, die ganze Welt aufzuzählen, deshalb ist es auch so lang geworden. Pink Floyd ist nicht die richtige Hausnummer, sondern eher Velvet Underground, wegen der Monotonie. Es ist ein alter Traum von mir, mal so eine Nummer hinzukriegen, die fast nur auf einem Akkord basiert. Wir haben sie live im Studio eingespielt und spielen es auch im Konzert.

In der Länge?

Ja.

Auf der anderen Seite gibt es wabernde, hochmoderne Töne unter gesprochenen Texten.

Korrekt ist ein Versuch, alle musikalischen Stile, die es heute gibt, zusammenzufassen. Es erinnert mich ein bißchen an das "Weiße Album" der Beatles, die versucht haben, bereits 1968 die sechziger Jahre zusammenzufassen. Das gleiche habe ich musikalisch– inhaltlich sowieso– für die Neunziger versucht.

Hören Sie HipHop?

Gelegentlich. Das Aufkommen in Deutschland wundert mich nicht. Die deutsche Sprache hat eine sehr rhythmische Qualität. Es ist eine echte Blutzufuhr für die deutsche Rockmusik.

Sie haben gerade das Musical Rent ins Deutsche übersetzt. Lohnt sich das noch? Die Branche schwächelt.

Es gibt eine Ermüdung. Das einzige, was man dagegen halten kann, ist Qualität. Das Publikum ist da.

Darf man auf diesem Sektor nichts mehr probieren?

Wir haben mit Rent was probiert. Es ist ein hartes Stück, ein konkretes Stück. Die Leute reden darüber. Das möchte ich in Deutschland auch erzeugen.

Wieviel erzeugen Sie dabei?

Ich bin dafür zuständig, daß das Stück verstanden wird. Die Aufgabe ist groß, obwohl ich eigentlich nur ein Dienstleister bin.

Ist sich Heinz Rudolf Kunze dafür nicht zu schade?

Nein, die Arbeit als Übersetzer ist für mich eine Herausforderung. Ich hätte gern "Tommy" übersetzt, und ich habe den Produzenten bekniet, Pete Townshend zu fragen. Ich glaube, er hat sich nicht getraut. Halt ich für einen Fehler.

Gibt's musikalisch eine Ausreißeridee?

Gibt es. Sie hat mit der Expo zu tun. Es geht um einen deutschen klassischen Komponisten, den ich in elektronischer Form wiederbeleben möchte. Mehr will ich nicht verraten, sonst schnappt es mir jemand vor der Nase weg.

Interessiert Sie die Expo?

Nicht leidenschaftlich. Aber ich hoffe, daß ich sie nicht nur als Zuschauer erlebe.

Uwe Janssen, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13. Februar 1999

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