Titelseite von "Papierkrieg"

1986

Herr K. und die Früchte des Zorns

Ein Dichter und Denker springt in die Luft und dabei über seinen eigenen Schatten. Man muß sich nur die Covers von Heinz Rudolf Kunzes Platten anzusehen, um festzustellen, daß er sich verändert hat. (Zu hören ist es natürlich auch.) Während auf den bisherigen Plattenhüllen immer ein junger Kopfmensch, vorzugsweise in Schwarzweiß, nachdenklich bis skeptisch in die Welt bzw. in die Kamera blickte, gelingt ihm auf seinem jüngsten Werk der Absprung – in Farbe. Er gesteht dazu: «Dein ist mein ganzes Herz.» Ein Zyniker im Land des Lächelns? Ein Grübler im Rock-Himmel? Auf der Rückseite verbeugt sich Heinz Rudolf Kunze so artig wie es seine Art ist und guckt verschmitzt so, als könne er kein Wässerchen trüben.

Doch auf Äußerlichkeiten ist gerade in seinem Fall kein Verlaß. Neu ist allerdings die augenzwinkernde Attitüde, mit der er ironisch deutsche Operettenseligkeit mit dem Mief der falschen Fuffziger und der Aufbruchstimmung des Rock'n'Roll kombiniert. Nach wie vor meint er es mit seinen Songs verzweifelt ernst, doch hört sich das jetzt nicht mehr so verkniffen originell und gedankenschwer an.

Der Mangel an Selbstironie und der Hang zu lyrischen Tiefgründeleien und verquälten Metaphern machten es den Kritikern von Heinz Rudolf Kunze bisher leicht, die in ihm einen Fall für Germanistik-Seminare, aber jedenfalls nicht für die Musik-Szene sahen. Denn daß einer so präzise und gekonnt mit der Sprache umgeht, ist in der deutschen Popmusik immer noch die Ausnahme von der Regel. Dieser scharfsinnige und scharfzüngige Songpoet macht es sich und seinen Hörern nicht leicht, dazu ist er nicht leichtsinnig genug. Als Heinz Rudolf Kunze die Szene betrat, rauschte die heute so verpönte Neue deutsche Welle auf ihren Höhepunkt zu, und die sogenannten Liedermacher steckten gerade wieder einmal in einer Ideen- und Identitätskrise. «Niedermacher für die 80er Jahre» war das Etikett, das man dem vielversprechenden Newcomer mit auf den Weg gab. Man muß sich das einmal klarmachen: Das ist erst gut fünf Jahre her und gleichzeitig eine Ewigkeit. Was am meisten überrascht: Heinz Rudolf Kunze ist heute noch keine dreißig Jahre alt, aber längst als Songschreiber etabliert und einer der wichtigsten und witzigsten Wortführer seiner Generation – neben Leute wie Thommie Bayer und Manfred Maurenbrecher, die er übrigens nicht nur als Kollegen schätzt.

Wenn einer Heinz Rudolf Kunze heißt und noch dazu auch so aussieht, dann ist sein exotischer Ruf in der Welt der Pop-Exoten gesichert. Klaus Schneider schrieb im Covertext zur Kunze-LP Reine Nervensache (1981): «Hinz und Kunz wirken undeutsch gegen ihn. So korrekt und kreditwürdig kommt er daher, so penibel und pensionsberechtigt, die Haare geschnitten, den Schlips geknotet – Muttis Traum vom Schwiegersohn. Der Typ ist so out, daß man eigentlich Verdacht schöpfen müßte. Denn wenn er erst den Mund aufmacht, ist alles zu spät. Die Stimme eine überspannte Klaviersaite, regnen Hohn und Herzenstrümmer auf das Publikum nieder, die Illusionen klatscht er den Leuten wie nasse Lappen um die Ohren, bis sie heiß werden, und nicht nur die Ohren. Biedermann als Brandstifter, der Schwiegersohn als Heiratsschwindler, ein Spielverderber wie er im Buche steht: Heinz Rudolf Kunze – deutscher kann keine Tarnung sein!»

Auf diesem Album findet sich, reichlich ungewöhnlich für ein Debüt, gleich eine Bestandsaufnahme, gewissermaßen die Zwischenbilanz einer ganzen Generation, nämlich der Mittzwanziger. Mit diesem poetischen Paukenschlag war Kunze 1980 überraschend der Sieger des Würzburger Pop-Nachwuchs-Festivals der Phono-Akademie geworden.

Wir begegneten uns zum erstenmal im Sommer 1981 beim Bardentreffen, dem Nürnberger Festival der Liedermacher. Kunze trat damals noch nicht mit Band, sondern nur mit dem Gitarristen Mick Franke auf. Ein seltsames Gespann. Wer ihn damals hörte, mochte seinen Augen kaum trauen. Irgendwas paßte da nicht zusammen. Dieser brave Bürgersohn, dem man allenfalls eine Banklehre zugetraut hätte, war mit seinen bösen und bitteren Beiträgen eine Ausnahmeerscheinung unter all den farb- und phantasielosen Sangesbrüdern. Da schlug einer neue Töne an, und man merkte: Der meint, was er sagt. Da sang einer von persönlichen Erfahrungen und blieb doch nie im Privaten stecken. Schon damals überrasche mich Kunzes eigenartige Mischung aus Selbstbewußtsein, das seiner Selbstkritik mitunter im Wege steht, und Zurückhaltung ebenso wie seine Fähigkeit, konzentriert zuzuhören und auf Anhieb druckreif zu formulieren. Seine Sprachgenauigkeit korrespondiert mit einer peinlich genauen Selbstbeobachtung. Viele Kunze-Songs drehen sich um eines der zentralen Probleme der modernen Literatur: Wie ist es möglich, sich als Individuum in der Massengesellschaft zu behaupten und sich im allgemeinen Zeichensystem der Sprache auszudrücken? Da gibt es zum Beispiel «Kilian, der nicht auszurechnen war». Und all die anderen, die Kontakt und Kommunikation suchen und leise um Hilfe rufen. Es gibt aber auch die negativen Gegenbeispiele in seinem Repertoire, Figuren, die nur noch über ihre Funktionen beschrieben werden, die sich dem Allgemeinen so angepaßt haben, daß sie ihr Gesicht verloren haben. Sie tragen Allerweltsnamen wie Hans, der Traumtänzer oder Klaus, der Polizist. Bezeichnenderweise ist dieser Vertreter der Staatsgewalt austauschbar: «Dies ist Klaus. Besondere Kennzeichen: Keine.» Dieser Typ wird in knappen Worten karikiert, aber nicht denunziert. Der letzte Satz enthüllt seine resignierende Denkweise: «Einer muß es ja machen.» Und das ist ja nun wirklich die lausige Ausrede aller Mitläufer. Heinz Rudolf Kunze (Jahrgang 1956) ist selbst das Beispiel für einen Bürger auf Abwegen. Da ist einmal Herr Kunze aus Osnabrück, «der Stadt der goldenen Mitte». Er kleidet sich so unauffällig wie er lebt. Die Erwartungen, die an ihn herangetragen wurden, hat er stets zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllt: ein Musterknabe, von dessen geheimen Ängsten, Sehnsüchten, Zweifeln, Empfindlichkeiten wohl kaum jemand etwas ahnt. Aus der kleinbürgerlichen Enge sieht Heinz Rudolf, der unbeliebte und unsportliche Klassenprimus, nur einen Ausweg: Schreiben. (Und es ist kein Zufall, daß er das so perfekt macht, daß er dafür 1978 den Literaturpreis der Stadt Osnabrück bekommt.)

In einem Interview (nachzulesen in dem Band «Selbstredend...» von Kathrin Brigl und Siegfried Schmidt-Joos, rororo 5602) erzählt Heinz Rudolf Kunze von seiner Kindheit: «Ich wurde nie bestraft, ich wurde nur sehr geschickt belohnt – oder eben nicht belohnt. Ich habe nie um irgendein Buch, irgendeine Platte oder um irgendein Musikinstrument lange betteln müssen. Ich lebte mit ziemlich alten Eltern als Einzelkind, war in der Schule natürlich fürchterlich gut, habe bis Ende der Mittelstufe des Gymnasiums praktisch keine Freunde gehabt, weil man als Primus in der Schule dann doch den Preis zahlen muß: Man wird geschnitten und aus den Einheiten der anderen rausgestoßen.» Einsamkeit lernt der vom Erfolg verwöhnte Einzelgänger schon früh kennen.

Und vielleicht erklärt sich vor diesem Hintergrund auch die heute noch bei Kunze zu beobachtende geradezu kindliche Empfänglichkeit für Komplimente, sein Bedürfnis nach Beifall: Belohnung für eine gute Leistung und Liebesersatz. Da kann er sich freuen wie ein Schneekönig oder eben ein Schulkind, das mit einem guten Zeugnis nach Hause kommt.

In Konzerten muß das Publikum den Sänger und Musiker Kunze nicht lange um Zugaben bitten, wenn er mal in Fahrt ist, kann man den sonst so zurückhaltenden Songpoeten nicht mehr bremsen. Er liebt es, geliebt zu werden. Nicht ohne Koketterie sagt er: «Ich gehöre zu der merkwürdigen Minderheit, die sich abends, wenn alle anständigen Leute Dalli-Dalli sehen, auf Bühnen stellen, um den Mitmenschen etwas mitzuteilen, was sie angeht.»

Der Ausbruchversuch aus der schon vorgezeichneten bürgerlichen Karriere mit Hochschulabschluß (Germanistik und Philosophie) und Befähigung zum höheren Lehramt endet im Rampenlicht. Zu der berauschenden Bühnenerfahrung gehört freilich auch der trostlose Tournee-Alltag. Die Bühne ist eine Art «Brüllzimmer» für den dichtenden Denksportler, der von sich sagt: «Ich führe ein sehr biederes, braves, stinknormales Familienleben.»

Kunze lebt mit Frau und Kind in einer unauffälligen Stadt: «Osnabrück hat, wenn man so will, das gewisse Nichts, das ich brauche, um halbwegs zur Ruhe zu kommen.» Die kleinen und großen Fluchten, die Abenteuer spielen sich im Kopf ab. Wie früher, als der dichtende Pennäler schreibenderweise das Leben in seine Bude brachte. Eine Möglichkeit, die Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen zumindest poetisch in den Griff zu kriegen. Der poetische Trick des Rollensongs ermöglicht es dem sensiblen Stubenhocker (was freilich nur noch im übertragenen Sinn stimmt), die Welt aus jedem gewünschten Blickwinkel zu betrachten, ein Kunstgriff, der in der Literatur gang und gäbe, bei Songtexten aber eher die Ausnahme ist. So kann Heinz Rudolf Kunze nach Belieben in die Haut des verzweifelten Arbeitslosen (Eine ruhige Kugel), des verklemmten Moralapostels (Pornos), eines deutschen Teilzeithelden (Der letzte Dreck) oder eines gewalttätigen Fußballfanatikers (Packt sie und zerhackt sie) schlüpfen. Und diese Rollen zur Diskussion stellen. Rollensongs sind übrigens auch eine Spezialität des amerikanischen Songpoeten Randy Newman, den Kunze als Geistesverwandten verehrt. Vergleiche bieten sich geradezu an. «Mit Randy Newman verglichen zu werden, steht keinem schlecht an», meint Kunze. «Ich hoffe, daß ich von ihm gelernt habe, Jargons zu vermeiden, daß ich meine Sprache weit offenhalte, damit nicht nur irgendeine Szene sich in sie einklinkt und auf bestimmte Formulierungen abfährt. Ich will das möglichst offenhalten, was ich sage. Und ich hoffe, von ihm gelernt zu haben, mich und meine penetrante, persönliche, langweilige Wertung rauszuhalten aus Songs. Ich hasse Songs, die am Ende unbedingt meinen, dem Zuhörer eine persönliche Stellungnahme, eine Aufforderung und einen Zeigefinger zumuten zu müssen.»

Es ist sicherlich auch kein Zufall, daß Kunze sein journalistisches Debüt mit einem Essay über Randy Newman gab. Und man könnte diese geistreiche und genaue Analyse streckenweise fast als Selbstporträt des Autors lesen. Zum Beispiel müßte man bei folgender Charakterisierung nur die Namen austauschen: «Newman ist kein Kumpel, kein Kuscheltier, kein Idol. Er sitzt irgendwo in L. A., pflegt seine Unauffälligkeit und will seine Ruhe haben. Ein Skandal: Da lebt einer zwischen all den fleißigen Mittelstands-Nachbarn in einer überwältigend aufgeräumten Gegend, spielt tagsüber, wenn alle andern arbeiten, mit seinen Kindern und sitzt vor dem Fernseher, und in seinem Kopf ist die Hölle los. Die Tarnung ist perfekt.» Autobiographisches kommt bei beiden, wenn überhaupt, in verschlüsselter Form vor. Es gibt freilich Ausnahmen. Am auffallendsten ist bisher der neue Song Vertriebener, der zugleich Kunzes Gespür für heikle deutsche Themen beweist. Und es gehört schon Courage dazu, sich zu der eigenen Vergangenheit zu bekennen und sie nicht wie die meisten zu verdrängen: «Meine Mutter war so treu, daß mir schwindlig wird./Mein Vater war bei der SS./Ich heiß Heinz, wie mein Onkel, der in Frankreich fiel,/und Rudolf wie Rudolf Heß.» Familien- und Zeitgeschichte sind untrennbar miteinander verknüpft. Da nimmt einer alle zu erwartenden Mißverständnisse auf sich, um sich als Betroffener von revanchistischen Parolen gewisser Vertriebenenverbände zu distanzieren. Ein Vertriebener, der keine Revanche fordert. Und der eine Ersatzheimat auf der Bühne gefunden hat: «Ich hab in Lengerich gewohnt, in Hannover und Bad Grund./Immer das Gefühl, daß man stört./Ich bin auch ein Vertriebener, nirgendwo Gebliebener./Zuhause ist, wo man mich hört.» Es ist ein echtes Kunze-Kunststück, solch eine Thematik auch musikalisch so aufzubereiten, daß es im Ohr hängenbleibt und trotzdem nicht peinlich wird.

Ein ähnlich gelungenes, gleichwohl Mißverständnisse provozierendes Beispiel dafür ist Madagaskar, wohl einer der ungewöhnlichsten poetischen Beiträge zum 40. Jahrestag der Befreiung von der Nazi-Diktatur und des Kriegsendes. Es ist der Monolog eines Ewiggestrigen, der die Geschichte nicht wahrhaben will und die bekannte Entschuldigung parat hat: «Die haben das doch gar nicht gewollt.» In dem Song fällt nicht einmal das Wort Nazi oder Jude, und doch weiß man sofort, was gemeint ist: Die Beschönigung und Verharmlosung eines der ungeheuerlichsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Der Song wirkt um so bedrohlicher und beeindruckender, da er nichts Anklagendes hat. Auch aus der Musik klingt verzagtes Verständnis.

Die politischen Lieder von Kunze, der gern in offenen Wunden bohrt, bleiben über den aktuellen Anlaß, aus dem sie entstanden sind, hinaus gültig. Ein Balkonfrühstück in Nürnberg kann z. B. eine unvermutete Gelegenheit bieten, sich mit deutscher Geschichte und Gegenwart zwischen Nazi-Terror und Terroristen-Hysterie zu beschäftigen.

Kunzes persönliche Protokolle zur Lage der Nation verraten die Schwierigkeiten, in der Bundesrepublik eine Heimat zu finden. «Verlassen von allen guten Geistern» heißt denn auch der Untertitel zu Kunzes Deutschland-Lied, das so beginnt: «Verschwiegen in der Schule wie ein peinlicher Infekt./Im Landserheft auf eigene Faust dein/Nachtgesicht entdeckt./Vergiftet von den Treuen und vergessen von/dem Rest./Zuhause sein in dir ist ein beklemmend grelles/Fest.»

Die Menschen, die dieses Wirtschaftswunderland bevölkern, sind fast alle beschädigt, verzweifelt, verbogen, zu kurz gekommen. Diese Seelen- und Beziehungskrüppel haben ihre Träume zu den Akten gelegt oder pflegen heimliche Leidenschaften, um die dröhnende Leere und ihre Sehnsucht nach Liebe zu überspielen. Und sie haben eine verdammte Angst vor der (atomaren) Apokalypse. Auf den Langspielplatten Der schwere Mut (1983) und Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde (1984) ist das zum beherrschenden Thema geworden. Die Diskussion um die Nachrüstung, die Friedensbewegung und die magische Jahreszahl «1984» mögen als zeitgeschichtliche Stichworte genügen. Der stille Brüter mit den explosiven Texten und der ätzenden Stimme hat das Ticken der Bombe ständig im Ohr: «Bleiben von der Gegenwart/wird nichts als die Beschämung: So ist es gewesen./Ich war hemmungsvoll dabei.» Unsentimental und bissig bricht sich die Verzweiflung Bahn. Radikal persönliche Einsichten gewinnen eine politische Dimension. «Wie machen sie das bloß – zu leben? Wie/schaffen sie das noch? Ich meine,/eine Rakete pro Kopf,/die wiegt schließlich einiges, daß das nicht jeden sofort zu Boden drückt,/erstaunlich.» Heinz Rudolf Kunze erweist sich als verletzlicher und verletzter Chronist, der sich mit Sarkasmus den allgemeinen Wahnsinn von der Seele schreibt: Nicht der Dichter ist zynisch, sondern die Situation, in der er lebt.

Kunzes Figuren haben den Kontakt zur Realität verloren (Traumtänzer), sind hoffnungslos in sich selbst verliebt (Romanze) und tödlich einsam (Keine Reaktion). Alles wartet auf Hilfe von außen. Selbst können sich diese Menschen nicht mehr helfen. Und auch der Sänger kann keine poetischen Patentrezepte anbieten. Aber solange man singt, ist noch nicht alles verloren. Die große Depression scheint Kunze inzwischen überwunden zu haben. Der Songpoet, der seinen Platten nach literarischer Tradition gerne ein Motto voranstellt, wählte zu der LP Der schwere Mut ein Zitat von Peter Handke: «Eine große Schuld ist es/die Macht zu haben/den Leuten die Angst zu nehmen/und es doch nicht zu tun.» Mit dem Bekenntnis zur eigenen Angst macht er sich und seinen Hörern Mut. Und er beruft sich auf Kierkegaard: «In der Geistlosigkeit ist keine Angst, dafür ist sie zu glücklich und zu zufrieden, und zu geistlos.» Kunze selbst hält es für sein größtes Unglück, «daß ich immer wieder eine unbegründete Angst finde, die dann lange über meinem Leben hängt.»

In dem beklemmenden Song Der Anruf heißt es: «Wir frieren und der Angstschweiß/läuft über unsre Stirn/wir haben jetzt kein Taschentuch/wir horchen auf das Klingeln/ganz hinten im Gehirn.» Es ist der erste Song auf der LP Ausnahmezustand (1984), die mit Ruf man wieder an ironisch schließt. Darauf deutet sich eine Entwicklung an, die bei den neueren Songs verstärkt zu beobachten ist: Der «Hüter der Unruhe» (Tom R. Schulz) hat sich freigespielt und hat es nicht mehr nötig, seine Sprachkraft in jeder Zeile zu beweisen. Er will nicht der Dauer-Geheimtip für frustierte Studenten bleiben und versucht sich mit einer witzigen Neufassung des alten «Kinks»-Klassikers Lola sogar an einem Hit.

Auch musikalisch kommt der Songpoet, der Klavier und Gitarre spielt, gelassener daher. Der Musikjournalist Tom R. Schulz beschreibt seine musikalische Seite folgendermaßen: «Am liebsten würde Heinz Rudolf Kunze die Quadratur des Kreises schaffen und 'kommerzielle Avantgard' machen. Nichts langweilt ihn mehr als Mainstream-Rock und die Vorhersehbarkeit des nächsten Akkords. Bei seinen Songs kann man sich eigentlich nur auf ihre Unberechenbarkeit verlassen und darauf, daß sie trotzdem nicht verstiegen oder gekünstelt klingen. Und so, wie man nicht weiß, ob er das Normale mit außergewöhnlichen Mitteln erreichen wird, so wird auch die Frage offenbleiben, ob er selber eher der Verrückte mit der Sehnsucht nach der Normalität ist oder der Normale, der sich nach Verrücktheit sehnt.»

Auf seiner bisher letzten LP Dein ist mein ganzes Herz (1985) geht Kunze noch einen Schritt weiter in Richtung Rockmusik. Ausgelassen wie nie zuvor, unterstützt von einer traumhaft aufeinander eingespielten Band. Dein ist mein ganzes Herz ist ein richtiger Ohrwurm, aber freilich kein ganz gewöhnliches Liebeslied. Mit Ausnahme von Väter handelt es sich auf dieser Platte um «richtige» Lieder, nicht um Lyrik mit Musik. Sie zielen verstärkt auf Herz und Hirn. Neben den erwähnten Volltreffern finden sich allerdings auch wieder ein paar poetische Platzpatronen. Beispiele liefert besonders der Song Brennende Hände: «Es ödet jeden an mit der Zeit,/nur Schiffe zu versenken./Wir fleddern unsere Sterblichkeit/und haben doch nichts zu verschenken.» Ansonsten aber wird scharf geschossen: Kunze hält hier keine musikalische Dichterlesung, sondern geht in die vollen. Energiegeladen und rhythmusbetont. Nur noch ein Hauch von Grübelei und Weltuntergangsstimmung. Seine Songs sind nicht mehr nur Früchte des Zorns wie früher, sondern Resultat eines menschlichen und künstlerischen Reifeprozesses.

Kunze, der als Autoren Hans Henny Jahn und Rolf Dieter Brinkmann schätzt und die Musik von Gustav Mahler, The Who und The Fall mag, liebt das Paradoxe nicht nur in der Poesie. Nach wie vor stellt er alles in Frage. Selbst wenn er einen Hit landen sollte – zum Idol taugt dieser Typ nicht. Er nimmt den Hörern das Denken nicht ab und warnt sie: «Glaubt keinem Sänger!/ist meine erste und letzte Parole/Glaubt keinem Sänger!/schlachtet die Idole». Er ist und bleibt «der alte zornige junge Mann», der sich noch an nichts gewöhnt hat.

Steffen Radlmaier

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