Heinz Rudolf Kunze beim Interview (Foto von Gerald Erdmann)

2003

Das wird was!

Es ist wieder mal soweit: Die Webverstärkung hat sich ein Wochenende freigenommen, um zu unserem Lieblingssänger in die Wedemark zu fahren. Im Madagaskar Studio treffen wir Heinz Rudolf Kunze, der dort ja nach wie vor mit Heiner Lürig zusammenarbeitet, zum großen Rückenwind-Interview. Drei Stunden lang geht es um Politik, die sogenannte Deutschrock-Szene und natürlich das neue Album, die neue Band. Drei Stunden, in denen viele interessante Themen gestreift oder auch ausgiebig behandelt wurden und die mit einem gemütlichen Abendessen ausklangen ...

Webverstärkung: Da es ja nun eine neue Mannschaft gibt – Was war denn anders und was war genauso wie bisher?

Heinz: Ziemlich wenig bis nichts war genauso. Das kann man wohl so sagen. Die neue Mannschaft muß man ja etwas weiter fassen, das bezieht sich ja nicht nur auf die drei neuen Hamburger Musiker, die dann mit Matthias die neue Live-Band bilden, sondern der Produzent hat diese Platte ja wirklich mit einer sehr großzügigen Malerpalette gefahren und hat keinen Augenblick gezögert, auch über diese drei neuen hinaus noch mehr Musiker hinzuzuziehen, wenn ihm das für die Stücke in den Kram paßte. Da gab es nicht dieses schon fast orthodoxe "Dies ist die Band", sondern da ging es immer nur um das Stück, und da gibt es dann eine Kernband, ja – manchmal reicht die aus, manchmal nicht. Dazu kommen dann viele Ergänzungsmusiker (noch nie so viele wie dieses Mal), und dazu kommt noch der dritte neue Teil der Mannschaft: die Technik. Das ist zunächst der Produzent selbst, dann seine vier, fünf Toningenieure, der Programmer, der dann an seinem Bildschirm alles geraderückt und Effekte zufügt, das neue Studio: es war ja wirklich alles neu. Alle Umstände, bis auf Matthias Ulmer, der auch nur eine recht geringe Rolle auf dem neuen Album gespielt hat – er ist ja nur zweimal für kurze Zeit angereist und hat hier und da georgelt und Klavier gespielt. Die meisten Keyboard-Parts hat Julian Maas gemacht, der Jüngste von uns allen, der ist erst 28, glaub ich. Das ist Franzens Leib- und Magen-Keyboarder, den er bei ganz vielen verschiedenen Produktionen einsetzt. Franz hat sich da schon so eine Mannschaft herangezogen in den letzten 10 Jahren, die er immer wieder in leicht wechselnden Konstellationen holt, weil das Leute sind, die mit ihm ein außergewöhnliches Verhältnis haben. Das ist so eine Arte telepathische Familie, er ist ihr Ziehvater und braucht sie manchmal nur anzukucken, dann wissen sie, was er von ihnen erwartet. Dann spielen sie das, ohne große Diskussionen. Kleines Stirnrunzeln bei Franz und die wissen bescheid. Die haben so eine Kommunikation entwickelt, ein Verhaltensspiel, das so blind funktioniert, das hab ich so noch nie gesehen. Ich glaube schon, daß wir auch viel miteinander bewegt haben, aber das mußte in der alten Band immer sehr ausführlich diskutiert werden. In Hamburg nicht, dort wird entweder instinktiv begriffen oder fallengelassen.

Dann muß man natürlich berücksichtigen, daß die drei Hamburger, die jetzt dabeigeblieben sind, auch schon dadurch alles anders machen, daß sie deutlich jünger sind als ich. Ich war früher immer in den meisten meiner Bands der Jüngste, und jetzt bin ich mit Abstand der Älteste. Die sind alle mindestens 10 Jahre jünger und haben dadurch auch eine andere Art, an Musik heranzugehen. Insofern war das was völlig anderes. Noch viel radikaler hätte man einen Schnitt nicht machen können, ich habe tatsächlich nur mich und meinen Assi mitgebracht, und zwei kurze Besuche von Matthias. Das war schon ein sehr fremdes Gewässer, in das ich geworfen wurde. Die Leute im Home Studio haben aber große Übung darin, immer wieder neue Interpreten zu erleben und sind sehr erfahren darin, einem ein Heimatgefühl zu vermitteln. Nach wenigen Tagen ist man dort so drin, daß man freiwillig früher aus dem Hotel kommt. Im Vergleich zum Madagaskar Studio ist das ja auch ein Riesenbetrieb, immer ist irgendwas los, es werden auch parallel andere Projekte gefahren. Man wird da so eingesogen, und da ich dort insgesamt circa drei Monate verbracht habe, ist das wohl auch besser so. Man läßt sich drauf ein und geht darin auf, ansonsten wird einem wohl recht unwohl über so lange Zeit.

Heinz Rudolf Kunze und Phil Köper im Gespräch (Foto von Gerald Erdmann)Die Chemie hat dann auch gestimmt. Man muß eben akzeptieren, daß Franz' Persönlichkeit eine völlig andere ist als Heiners. Er ist ein hektischer, wuseliger Mensch, der immer acht Themen gleichzeitig im Kopf hat, hat nicht diese Beharrlichkeit wie Heiner, etwas gnadenlos nicht loszulassen und am Ball zu bleiben. Er ist ein schweifender Mensch, ein Komet, wie wir ihn genannt haben. Aber es funktioniert: er kommt in den Raum wie ein Direktor, der Aufgaben verteilt, oder wie ein Fischer, der das Netz auswirft und nach einer Stunde wiederkommt und sich den Fang anschaut: "Diese Fische schmeißen wir alle wieder weg und den einen behalten wir!" Heiner hat dagegen eine Angel und wartet, bis er genau den richtigen Fisch fängt. So ist Franz nur dann, wenn ich dran bin, beim Gesang. Da ist er dann die ganze Zeit da. Und er macht das sehr behutsam und höflich, merkt gleich, wenn ich an einer Grenze ankomme und mich verstellen müßte. Wir wollen ja keine hohle Pose produzieren. So hat er bei ein paar Stücken, zum Beispiel Die Zukunft, Phrasen und Wendungen rausgekitzelt, die ich sonst so nicht gemacht hätte. Das hat, wie Fotografiertwerden, ja auch mit Vertrauen zu tun. Wenn man merkt, da kommt etwas neues von mir, dann verschieben sich die eigenen Grenzen nach außen, dann macht man auch mehr.

Webverstärkung: Wieviel ist denn dann "Franz Plasa macht HRK" und wieviel ist andersherum, "HRK benutzt neue, andere Leute um sich zu entfalten"? Irgendwo zwischen diesen Polen, nehme ich an?

Heinz: Natürlich, genau das ist ja auch ein ganz wesentlich Teil des Produzentenjobs, die richtigen Leute zusammenzubringen, neue Leute. Das muß dann auch knistern. Das hat Franz gut gemacht. Aber um die Frage ganz schnell und in einem Satz zu beantworten: Ich habe noch nie, wie dieses Mal, über alle Credits geschrieben: "Produziert von Franz Plasa". Das stand bei mir immer ganz unten. Jetzt ist es die erste Bemerkung. Insofern war das schon ganz richtig, "Franz Plasa macht HRK". Wenn wir dann öfter zusammenarbeiten sollten, dann wird sich das sicher auch einpendeln – auch für Franz war das ja neu, er kannte mich nur als sehr flüchtiger Hörer. Es war bei ihm auch eine Art von Last der Verantwortung, denn die WEA erwartete von ihm ganz klar etwas deutlich anderes. Man soll merken, daß sich etwas getan hat im Vergleich zu der Kunze/Lürig-Geschichte, sonst würde der ganze Aufwand nicht lohnen. Daß er dabei dann natürlich bei sich aus dem Vollen schöpft und sich nicht nur auf mich einläßt, war wohl klar – das hat sich aber schon im Verlauf der Produktion geändert, nachdem wir uns besser kennenlernten. Jetzt kann er mich einschätzen – da sind neben den Studioaufnahmen auch die Momente zwischendurch sehr wichtig – und es würde sich sicher zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen entwickeln. Dieses Mal hab ich noch sehr viel mehr genommen als gegeben, was die Produktion im Studio selber angeht.

Webverstärkung: Du hast Dich also durchaus am Anfang zurückgenommen und Franz machen lassen – mal sehen, was passiert?

Heinz: Nun, es ging ja auch um mehr als eine Person, es mußte sich ja zeigen, wie das ganze neue Ensemble funktionieren würde. Dazu hatten wir dann allerdings die besten Möglichkeiten, denn dieses Studio ist ja groß genug – im Madagaskar Studio hatten wir leider nicht genug Platz, uns wie für einen Live-Auftritt aufzubauen. Wir haben dann Anfang Juni erst mal zwei Tage damit verbracht, zusammen richtig loszugalloppieren, und da habe ich gemerkt, daß die Jungs eine unheimliche Aufmerksamkeit hatten und eine Frische, die man wohl nur bei der ersten gemeinsamen Produktion hinkriegt. Die haben mich richtig belauert, jedes meiner Worte aufgesogen und mit einer unglaublichen Spannung und Lust, sich zu beweisen, gespielt. Nach kurzer Zeit habe ich gedacht: "Das wird was!".

Ich hatte erst etwas Sorge, daß das alles sehr ausgebuffte Studio-Profis sein könnten, die heute Kunze und morgen Udo Jürgens machen, solche Leute gibt es ja auch. Und obwohl sie alle recht erfahrene Musiker sind, sind sie doch sehr unverbraucht, begeisterungsfähig und einsatzfreudig. Zum Beispiel Jörg Sanders an der Gitarre ist wirklich ein Genie wie ich selten eines gesehen habe, der spielt einem wirklich alles, und ist sich trotzdem in keiner weise zu schade, vierzig- bis fünfzigmal dieselbe stumpfe Rhythmusgitarre zu spielen, bis Franz "Danke" sagt. Das bewundere ich, weil ich selbst viel ungeduldiger mit so etwas bin.

Webverstärkung: War es denn da schwer, in diese Gruppe hineinzukommen, ist Dir dort ein gewisser Ruf vorausgeeilt? Du bist ja letztlich auch hin und wieder als ein Sonderling oder Eigenbrödler dargestellt worden.

Heinz: Nein, überhaupt nicht. Leo Schmidthals war der einzige, den ich schon kannte (er hatte für Wo warn wir stehngeblieben die Geigen arrangiert). Aber keiner hatte irgendwelchen schrägen Images im Kopf. Jens Carstens zum Beispiel erzählte mir, daß sein älterer Bruder immer meine Platten gehört hätte und er deswegen beinahe sowas wie ehrfürchtige Gefühle und einen Riesenspaß hatte, das jetzt mal alles selber spielen zu dürfen. Man hatte mir fälschlicherweise übrigens gesagt, daß ich live mit diesen Jungs gar nicht würde spielen können. Als ich das am ersten Abend gleich erwähnte, waren sie sehr überrascht und antworteten, daß es auf die Platte ankäme und wie wir zusammen funktionieren würden. Da war eigentlich alles klar. Ich wollte im übrigen sogar die ganze Truppe komplett haben, also eine Sechs-Mann-Band mit zwei Keyboardern. Ich hätte mir das sehr reizvoll vorgestellt, weil Julian und Matthias sicher zwei von den ganz wenigen Kandidaten sind, die sich das hätte aufteilen können, ohne sich auf die Füße zu treten. Leider hat Julian aber in diesem Jahr so viel vor, daß er nicht annehmen konnte.

Webverstärkung: Bist Du den alten Musikern gegenüber in einer Zwickmühle? Ihr hattet Euch doch gerade richtig gut eingespielt, gab es Trennungsschmerzen und Probleme?

Heinz: Auf jeden Fall, zumindest menschlicher Art. Das betrifft vor allem CC, Raoul hat das ganze sehr professionell und gelassen gesehen, weil ich ja die Möglichkeit, daß so etwas passieren könnte, frühzeitig angekündigt hatte. Er war recht zufrieden mit dem "modus vivendi", hatte er doch von anderen Trennungen schon aus der Zeitung erfahren. Wobei ich solcherlei Feigheit insofern nachvollziehen kann, daß es eben überhaupt nicht angenehm ist, derartige Nachrichten zu überbringen. Ich hab ihn seitdem auch schon einige Male getroffen und wir haben ein ganz herzliches Verhältnis.

Matthias ist noch dabei, mit Heiner habe ich mich auf eine andere Ebene gerettet (wir arbeiten ja zusammen am Sommernachtstraum), und so hat CC den unglücklichsten Part erwischt. Mir tut das menschlich wirklich sehr leid. Ich kann aber die Geschichte nicht zurückdrehen. Und obwohl es mir sehr schwerfiel, diese Lawine loszutreten, will ich sie inzwischen auch nicht mehr zurückdrehen. Ich bin jetzt der Meinung, daß die vielen Leute, die mir geraten dazu haben, "Mach das mal!", recht haben. Man muß so etwas ausprobieren, denn man hat nur ein Leben, eine Karriere, und sollte schon ausprobieren, mit wem man noch zusammenarbeiten kann – wo es noch knistert, wenn man sich zusammentut. Es ist einfach eine gesunde Neugier, ob es andere Leute gibt, die auf meine Musik und meine Texte reagieren, denen dazu etwas einfällt und die vielleicht eine Saite zum Klingen bringen, die ich noch nicht hatte.

Es war ein sehr schmerzhafter Schritt, wie übrigens auch bei der Band davor, und je älter man wird, um so schwerer wird das auch – wie im richtigen Leben. Aber es war sehr notwendig.

Ob ich etwas vermissen werde, wird sich ab April im Probenraum zeigen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Matthias Ulmer ist noch dabei, der Gigant an den Tasten und Mann des Roten Fadens, der die Vergangenheit im Blick behält. Dazu habe ich eine so kompetente Band: Ich denke, daß Jörg Sander mir viel Freude machen wird und die Rhythmusgruppe sowieso. Ich bin mir sehr sicher, daß ich mit denen ein sehr einfaches Leben haben werde. Die werden einfach einstöpseln und losspielen, genauso kompromißlos und knallhart präsent wie im Studio. Da wirke ich selber richtig schlampig, so vorbereitet wie die sind.

Webverstärkung: Gibt es eigentlich Eitelkeiten, wenn man dann Stücke spielen soll, die vorher jemand anders interpretiert hat? Will jeder den Stücken seinen Stempel aufdrücken?

Heinz: Das wird man sehen, ich habe ja noch keine alten Stücke mit ihnen gespielt. Das ist allerdings auch anders als früher, denn Franz hat beim Produzieren doch eine andere Bandbreite. Er läßt allen einen gewissen Raum, so daß sie von sich sagen können, den Part miterfunden zu haben. Wenn es dann auch noch eines meiner Stücke ist, ist das ganze noch offener. Ich bin da wohl so wie Bob Dylan – Ich spiele meinen Part an Klavier oder Gitarre und singe dazu vor, und dann lehne ich mich zurück und sage: "Nun macht mal! Was kommt dazu von Euch?". So kann ich mir drei Sachen anbieten lassen und mich für eines entscheiden.

Etwas anderes ist das mit alten Stücken, von denen es schon eine (womöglich erfolgreiche) Version gibt. Das wird sich aber wohl sehr locker entscheiden, denn diese Herren haben alle ein sehr gesundes Selbstbewußtsein und müssen die alten Parts nicht ändern, nur damit man hört, daß sie da sind. Ich sehe da keine Probleme mit zwanghaftem Duftmarken-Setzen.

Webverstärkung: Konntest Du also Deine Vorstellungen problemlos einbringen? Wir haben ja mitgekriegt, wie Du zum Beispiel bei Es ist nicht wie Du denkst die Harmonien nach Deinen Vorstellungen etwas abgeändert hast ...

Heinz: Ja, ich habe die C-Strophe kurzerhand geändert. Jetzt finde ich das Stück großartig, vorher war es mir zu monoton, der Aufbau 2 Strophen – Refrain – 2 Strophen – Refrain. Sebastian wollte im zweiten Teil alles noch mal genau gleich machen. Da dachte ich mir, das kann nicht so weitergehen, in der vierten Strophe muß etwas passieren. Vor dem Schlußrefrain mußte sich etwas ändern, der berühmt-berüchtigte C-Teil, der viele Leute ja zum Wahnsinn bringt. Angeblich sollte Rockmusik simpel sein, drei Akkorde und gut.

Webverstärkung: Status Quo!

Heinz: Die soll man nicht unterschätzen, die haben auch C-Teile! Auf jeden Fall mußte etwas passieren, es schien langweilig. Ziemlich schnell waren dann alle auf einer Höhe, "Stimmt!". Es war aber auch recht ungewöhnlich, daß ein Stück so spontan entsteht.

Webverstärkung: Und gefilmt ist es auch noch! Gutes Bonusmaterial.

Heinz: Das war wirklich was besonderes. Wir haben bei diesem Stück eine Kunst daraus gemacht, das Grund-Take zu behalten und nur noch sehr subtil daran zu feilen. Zum Beispiel die zwei kleinen Chöre am Schluß, jeweils vierstimmig, das war schon vergleichsweise aufwendig. Das ist übrigens auch bei der Plattenfirma sehr gut angekommen.

Webverstärkung: Wie entstehen eigentlich diese Chöre? Komponiert das jemand oder geht das spontan?

Heinz: Das macht man recht spontan. Ich singe die Lead-Stimme, und dann sitzen Franz und ich mit dem Keyboard dabei und greifen ein paar Akkorde, was da passen könnte. Franz ist so ein Halbton-Freund, der macht immer ganz ungewöhnliche, auch "sich reibende" Intervalle; er ist da im einfügen "falscher" Töne in so einen Chor auch wesentlich mutiger als ich – bei mir sind das immer recht normale Dreiklänge. Außerdem sind die Chöre diesmal nicht so sehr Selbstzweck wie sie das schon mal waren. Ich singe sehr gerne und viel Chor, das gefällt mir einfach. Aber Franz wollte die Chöre sehr bewußt einsetzen, damit sich das nicht abnutzt und man sie am Ende gar nicht mehr wahrnimmt.

Heinz Rudolf Kunze im Gespräch (Foto von Gerald Erdmann)Auch die anderen, auch ein Weltmeister wie Jörg an der Gitarre, mußten sich angesichts dieses dichten und intensiven Songmaterials übrigens zurückhaltend und mannschaftsdienlich einsetzen; die Gelegenheiten für spektakuläre Soli geben diese Songs einfach nicht her. Live wird das sicher noch etwas anders werden. Mehr hätte oftmals einfach nicht gepaßt. Nichtsdestotrotz ist das Album ja voller Gitarren, es gibt unendlich viele davon! Sie spielen aber immer nur für den Song. Man tritt Franz sicher auch nicht zu nahe, wenn man sagt, daß er ein Gitarren-Produzent ist. Keyboards fallen ihm etwas schwerer, dafür hat er seinen Julian. Der ist ein Genie, aus dem – da bin ich sicher – wird noch was ganz großes. Franz interessiert sich auch nicht so wirklich dafür, für ihn muß es schon richtig rummsen, damit ihm das Herz aufgeht (lacht).

Webverstärkung: Sprechen wir mal über die Songs: Gibt es Lieblingssongs oder Stücke, die Du eigentlich nicht mit auf das Album genommen hättest?

Heinz: Also das letzte mit Sicherheit nicht. Es gibt grundsätzlich, wenn ich eine Platte frisch fertig habe, keine Stücke, auf die ich lieber verzichtet hätte – dann hätte ich das nämlich getan. Wenn eine Platte älter wird und man Abstand gewonnen hat, gibt es vielleicht ein paar Sachen, von denen man dann sagt, das hätten wir nicht machen müssen. Aber bei einer neuen Platte ist alles ernst gemeint. Deswegen hab ich auch weniger Schwierigkeiten gehabt, Retropolis auf die EP-Single abzugeben. Sowas gibt es leider manchmal im Studio, das ist wie Magie: Es ist nicht ganz das geworden, was ich mir vorgestellt habe. Das soll nicht heißen, daß ich es schlecht finde. Da ich aber gezwungen war, etwas von der Platte wegzunehmen, um die EP zu machen, habe ich mich für dieses entschieden – weil es einfach nicht in meine Richtung gelaufen ist. Ich hatte mir irgendwie etwas anderes dabei vorgestellt. Das Demo von Niels Frevert war anders, und wir haben das leider nicht wieder einfangen können. Sowas kann passieren, das habe ich schön öfter erlebt. Dann trenne ich mich auch davon. Noch mal, das ist kein Qualitätsurteil, ich hab das Demo ja auch sehr gemocht. Aber ich kann damit leben, daß es nicht auf der Platte ist.

Man sitzt dann im Studio und erlebt, wie so ein Stück wächst. Die Musiker knien sich rein und türmen Schicht auf Schicht, und ich will sagen: "Halt! Stop! Das geht doch in die falsche Richtung." Aber alle sind so vertieft, "Jetzt nicht, ich bin gerade dabei!", und ich halte mir den Mund zu – und dann ist der Zeitpunkt verpaßt, man müßte von vorne anfangen. Und das will dann eigentlich keiner, denn da geht es schließlich auch um Zeit und Geld. Wenn dann die Meinungen auch noch geteilt sind, dann verkneife ich mir mein Gemäkel lieber. Das kommt nun mal vor, und wenn man sich die Umstände vergegenwärtigt – neue Band, neues Studio – dann ist doch die Quote von Mißverständnissen sehr gering.

Wir hätten genauso leicht viel öfter aneinander vorbeireden und viel mehr Ausschuß produzieren können. Das ist aber nicht so gewesen, und das hätte ja auch nicht passieren dürfen. Schließlich war das ein recht teures Zusammenkommen; außerdem hatten wir schon eine kleine Vorproduktion, von der wir nur Warum gerade ich auf der EP verwenden konnten. Hätten wir nach einer Woche einsehen müssen, daß wir einfach nicht miteinander können, dann hätte es ernste Probleme gegeben.

Webverstärkung: Da muß ich natürlich einhaken – wie hättest Du denn Retropolis gemacht?

Heinz: Ich könnte es beschreiben – will aber gar nicht.

Webverstärkung: Wie schätzt Du denn jetzt die Erfolgsaussichten dieser Platte, dieses ganzen Manövers mit neuer Band, neuem Produzenten ein? Denkst Du, Du hast geschafft, was Du mit diesem Kraftakt bezweckt hast?

Heinz: Das ist leider keine Frage von Meinungen, das entscheidet dann der Käufer. Mein Gefühl ist das einer großen, abwartenden Unsicherheit, da die musikalische Landschaft auch und gerade in Deutschland sehr unberechenbar ist. Man kann einfach nicht vorhersagen, was so einem Album für ein Schicksal zuteil werden wird. Es gibt nicht wenige Leute in der Branche, die den Erfolg von Grönemeyer und Westernhagen für ein Indiz dafür halten, daß man auch mit deutscher Musik wieder Erfolg haben kann. Das ist sicher für diese beiden richtig; die Frage wird sein, ob es ausstrahlt und ich auch etwas abbekomme. Ich habe wirklich keine Ahnung. Es gibt in diesem Geschäft leider keinerlei Garantien.

Webverstärkung: Wo Du die beiden gerade erwähnst: Es wird ja gerne von einer Art deutscher Rockmusikszene gesprochen, wo Du dann mit Westernhagen, Grönemeyer und anderen (Klaus Lage vielleicht heute nicht mehr) in einem Atemzug genannt wirst. Siehst Du irgendwelche Gemeinsamkeiten außer der Tatsache, daß Ihr alle zufällig in derselben – Eurer – Sprache singt?

Heinz: Es gibt überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Wir haben fast nichts miteinander zu tun, wir treffen uns so gut wie nie. Der Begriff Szene ist hier eine Konstruktion, die einige Presseleute gebrauchen, um eine Gruppe von Leuten zusammenzufassen. In Wirklichkeit gibt es inzwischen eine deutsche Musikszene, die genauso (oder fast genauso) vielfältig wie zum Beispiel die englische ist. Das geht von den Elektronikern wie beispielsweise Kreidler über die Grufties wie Goethes Erben hin zu den Rappern und HipHoppern, bei denen es ja in der Tat derartige Kumpaneien und Verbindungen geben soll. Im Deutschrock gibt es einige Kollegen, die geradezu hysterisch miteinander verfeindet sind, und die anderen sieht man ab und zu, bei einer Gala oder im Backstage-Bereich – das war's. Es gibt überhaupt keine Gemeinsamkeit zwischen Marius, Herbert und mir. Herbert sehe ich alle fünf Jahre mal, dann geben wir uns kurz die Hand. "Szene" unterstellt ja auch eine gewissen Austausch, den es aber absolut nicht gibt. Wir sind eigentlich alles Einzelgänger.

Gut befreundet bin ich Klaus Hoffmann, Herman van Veen oder vielleicht Udo Lindenberg; ansonsten gibt es eine Reihe von Kollegen, mit denen ich gut auskomme: Niedecken, Maffey, Purple Schulz; ich habe auch ein gutes Verhältnis zu Marius, den ich recht lange kenne und ab und zu – wir sind ja bei der gleichen Firma – zu entsprechenden Anlässen sehe. Ich bin gut befreundet mit der ganzen Band PUR – wobei ja auch befreundet hier immer eher gute Bekanntschaft bedeutet. Über Beziehungsprobleme rede ich mit jemand anderem. Aber wir sehen uns halt gerne und häufiger.

Webverstärkung: Was anderes: Zum neuen Buch wird es ja diesmal eine CD geben. Was haben wir denn da zu erwarten?

Heinz: Da hab ich die Liste von Edda Fensch (vom Links Verlag) abgearbeitet, wo sie mir vorschlug, welche Texte sie gerne als Appetithäppchen, als kleine Lesung gewissermaßen, hätte. Sozusagen mein eigenes Hörbuch. Da bin ich ganz froh, daß das Buch mit CD zeitlich mit dem neuen Album zusammenfällt. Ich hatte etwas Zeit mich an diesen Termin zu gewöhnen, und im übrigen wäre daran fast die Zusammenarbeit mit Franz gescheitert. Als wir uns zur "Wasser"-Tour das erste Mal trafen, sagte er mir, er könne sich eine Zusammenarbeit mit mir gut vorstellen. Allerdings habe er nur im Sommer Zeit. Da wir mit der Platte aber im Frühjahr 2003 raus wollten, war das sicher nicht optimal.

Webverstärkung: Wie kommt sowas denn zustande? Ihr hättet dann doch auch das Weihnachtsgeschäft anpeilen können statt die Platte so lange liegenzulassen.

Heinz: Nun, wir haben im letzten Frühjahr Wasser gemacht, und die Plattenfirma wollte in gar keinem Falle in einem Jahr zwei Alben haben. Eigentlich hätten sie es sogar lieber gesehen, wenn Rückenwind erst im Herbst gekommen wäre; dann hätten wir aber dieses Jahr überhaupt nicht touren können. Und ich muß irgendwie auf die Bühne kommen, auch wenn das für den Kommerz nicht optimal ist. Würden wir ein Jahr auslassen, hätten wir nächstes Jahr sicherlich mehr Zuschauer.

Webverstärkung: Kommen wir ein bißchen zurück zur Platte, zu den Texten. Du hast ja recht tiefe und zuweilen komplexe Texte – wie sehr muß man als Hörer nach einem versteckten Sinn suchen, nach der Kernbotschaft Deiner Lieder und Aussagen? John Lennon hat ja mal einem Fan gesagt, er solle das alles nicht so ernst sehen, schließlich gehe es "nur um Rockmusik". Zuweilen also auch Text um des Textes, vielleicht sogar des Wortspiels willen. Wo sortierst Du Dich und Deine Aussagen ein?

Heinz: Das kann man so allgemein natürlich schwer beantworten.

Webverstärkung: Dann konkreter – Zum Beispiel scheint das Lied Wozu Feinde, obwohl schon vom letzten Sommer, eine gewisse traurige Aktualität zu haben – vielleicht fühlt sich da jemand von alten Freunden verlassen oder in den Rücken gefallen, wie jetzt ja in der Welt zu beobachten. Wobei ich die Zeile "Deine Freunde sind 1000 Mauern weit" noch nicht verstanden habe.

Heinz: Für mich ist das ein Lied über menschliche Schwäche, über alles das, was man sich vornimmt und nicht hinkriegt, über das, was man im Spiegel sieht, wenn man mal ehrlich und ernüchtert hineinsieht. Der zweite Refrain, der eben nicht Wozu Feinde sondern "Deine Freunde" heißt, ist dann so eine Art Aufschrei eines Menschen, der über die Jahre einen Weg geht, der ihn immer einsamer macht. Wo es keine Freunde mehr gibt, weil sie entweder zu weit weg sind oder selber schon resigniert haben. Es gibt Momente, die ich auch mal so vorbeiwehen sehe, in denen ich das sehr gut nachvollziehen kann. Wenn ich zum Beispiel mit guten Freunden rede, die weit weg sind und einen ganz andern Lebenswandel haben als mein Berufsjugendlichentum, dann sehe ich, daß sie meine Probleme teilweise gar nicht mehr nachvollziehen können. Allerdings handelt das Lied nicht wirklich von mir. Viele Leute haben wohl solche Momente voller Einsichten vorm Rasierspiegel. Die Bilder folgen schon ihrer Logik, aber der Gesamtzusammenhang läßt sicher mehr als eine Deutung zu.

Um also Deine Bemerkung aufzugreifen, es gibt tatsächlich Zeilen, und nicht wenige, die ich schon aus einem Spieltrieb heraus mache. Da gibt es ein Motiv, und dann lasse ich mal die Zügel schießen und schaue, wohin es mich mitnimmt. Das heißt nicht, daß man nicht zu jeder Zeile auch etwas sinnvolles sagen könnte, man kann sicher erklären, woher das alles kommt. Aber es hat nicht alles das gleiche Gewicht.

Webverstärkung: Ist es dann also richtig, Deine Stücke mehr wie die Momentaufnahme einer Situation zu verstehen als wie einen großen Schüleraufsatz zu einem vorgegeben Thema?

Heinz: Naja, ein Stück wie Prophet ist sicherlich keine Momentaufnahme, sondern eher das Fazit einer jahrelangen Befindlichkeit. Das ist mir nicht einfach so mal eingefallen, so ein Thema habe ich sicher schon lange umkreist. Anderes ist ganz und gar konkret, so hat es zum Beispiel die "hübsche Klofrau zwischen Frankfurt und Gießen" wirklich gegeben. Die hab ich gesehen und mich später im Auto hingesetzt und das notiert, um dann hinterher zu entscheiden, ob das lohnendes Rohmaterial sei, ob es sich lohne, das zu verwerten. Dann fängt man an, das aufzuschreiben, und dann entwickelt sich etwas daraus oder eben auch nicht. Und hierbei fand ich das irgendwie lustig, daraus konnte ich was machen.

Es gibt also eine ganze Bandbreite in den Texten, von den einfachen Blitzeinfällen oder sinnlichen Anschauungen, die ich aufschreibe und weiterspinne, über die Verwirklichung eines langen Gedankens, den ich über längere Zeit entwickle, wie zum Beispiel eben der moderne Prophet, als den mich Titus Reinmuth (von der Webverstärkung) bei einem denkwürdigen Gespräch in einem Kölner Hotel bezeichnet hat. Das hat mich dann länger beschäftigt. Und mindestens noch den dritten Fall, ein weißes Blatt Papier, an dem ich mit einem Worte spiele, das mir einfällt und das ich dann von allen Seiten anschaue, bis plötzlich – schwupps! – ein zweites dasteht, und dann auf einmal ganz viele. Das wäre wirklich klasse, wenn ich diesen Prozeß formalisieren könnte, verdeutlichen, wie ich von A nach B komme. Das scheint aber unmöglich zu sein, das haben schon viele versucht.

Webverstärkung: Ist das auch ein Thema bei Deinen Gastauftritten als Professor an der Musikhochschule Hannover, wo Du über die "Geschichte der Rockmusik" liest?

Heinz: Nein, soweit in die Tiefe des Songschreibens sind wir noch nicht eingedrungen. Es war bisher rein historisch. Der Professor hat mich für "Die Geschichte der Deutschen Rockmusik" und "Dylan und die Folgen" engagiert. Allein für Dylan habe ich zwei Vorlesungen gebraucht und mußte mich schon im Andeuten, im Skizzieren extrem beeilen; ich weiß nicht, wie unendlich viel ich weggelassen habe, was mir sehr schwer fiel. Und die Folgen von Dylan waren dann schon Telegrammstil, wo will man da aufhören?

Die Geschichte der Deutschen Rockmusik kann man ansatzweise in einer Vorlegung skizzieren, obwohl ich viele Querverweise einwerfen mußte.

Webverstärkung: Um bei den Texten zu bleiben – Gibt es auch den vierten Fall, daß irgend etwas in der Welt Dich so beschäftigt, daß Du das Bedürfnis verspürst, Dich konkret zu äußern, gar mit der Intention, mit diesem Deinem Text irgend etwas zu bewirken und zu verändern? Es scheint ja auch Kollegen zu geben, die meinen, ihren Teil tun zu müssen und ihre Popularität entsprechend zu nutzen.

Heinz: Ganz, ganz selten! Und zwar, weil ich, wie alle wirklichen Künstler, unfaßbar eitel bin und mir meine Themen einfach nicht diktieren lassen will. Das war auch nicht anders, als man mich ganz früher noch als Niedermacher angekündigt hat.

Heinz Rudolf Kunze (Foto von Gerald Erdmann)Ich stoße natürlich auch, frei schweifend, auf Themen, die mehr Leute als nur mich beschäftigen. Es ist also nicht immer nur Eigenbrödlerei. Und dann heißt es: "Huch, das ist ja ein politisches Lied!". So ein Text wie Elfter September ist da eine radikale Ausnahme.

Wenn man sich von solcherlei Beweggründen motivieren läßt, führt das meist zu schlechter Kunst, denn eine Kunst, deren Absichten zu deutlich erkennbar sind, hat meist ein sehr begrenztes Verfallsdatum. Man kann es nicht besser sagen als Hanns Dieter Hüsch: "Mein Kabarett ist mir für die bösen Buben zu schade". Es endet nämlich kotzenderweise damit, daß einer auf die Bühne geht, "Helmut Kohl" sagt und alles lacht.

Kunst hat nun mal aus meiner Sicht – und ich stehe nicht ganz alleine damit – die verdammte Aufgabe, die Welt noch mal zu erfinden. Da darf man einfach keine Absicht merken, Kunst muß genauso geheimnisvoll sein wie die Welt es nun mal ist und muß die ganze Welt abbilden. Texte, die engagiert sind, machen die Kunst zum Sklaven einer Idee, zum Mittel zum Zweck. Das sind dann Parteilieder, und so etwas ist minderwertig, es verweht mit den Anlässen. Das schlimmste, was zum Beispiel der von mir inzwischen sehr geschätzte Kollege Wolf Maahn je gemacht hat, war nach meiner Meinung "Tschernobyl", das ist nicht besser als Bohlen. Das hat ihn in vieler Leute Augen viel Credit gekostet, weil man einfach so peinlich die Absicht durchblicken sah. Ich weiß schon, warum er das gemacht hat, es war sicherlich gut gemeint. Aber Kunst darf niemals gut gemeint sein! "Irgendwo in Deutschland" von Maahn war eben nicht gut gemeint sondern gut gemacht. Damit daran kein Zweifel besteht: Maahn ist wirklich ein guter Maahn.

Schon Mick und ich haben uns immer darüber lustig gemacht, daß jemand ganz schlecht Gitarre spielt und auch überhaupt nicht singen kann, nach seinem Auftritt aber "Übrigens: Atomkraft find' ich scheiße!" sagt und deswegen trotzdem Beifall kriegt.

Webverstärkung: Darf ich es also auf die Formel "Metaphern auch um ihrer selbst und der Wortkunst willen" bringen?

Heinz: Es gibt Fälle, wo es tatsächlich sogar ins Lautmalerische geht. Ich glaube – das ist mein fester Wunsch –, daß man durch eigenwillige Formulierungen manche Sachen, die man empfindet, genauer ausdrücken kann als mit üblicher Alltagssprache. Und ich bin immer sehr enttäuscht und traurig, wenn Leute sagen: "Das verstehe ich nicht". Eigentlich hoffe ich immer, daß die Leute bei einem unvoreingenommenen, fairen Hingucken merken müßten: "Hm, gut. Ich würde es vielleicht nicht so sagen, aber ich kenne das". Ich habe auf keinen Fall die Absicht, den Leuten ein Rätsel zu stellen um des Rätsels willen, daß ich sie also vor die Wand fahren lassen will, sondern ich möchte schon alles was ich mache verstanden haben. Und bin ganz erschüttert, wenn ich dann manchmal merke, daß es gar nicht so ist, daß es nicht verstanden wird. Das ist auf keinen Fall meine Absicht. Es gibt ja dann auch gehässige Reaktionen, wo Leute sagen: "Ach, der hält sich wohl für was besseres" und "Der drückt sich so schwierig aus, damit ich's nicht verstehe". Das ist bullshit. Das ist nicht so. Das war mir wichtig.

Stellungnahmen, daß ich jetzt irgendwelche politischen Meinungen in die Lieder einbaue, das wirst Du nicht finden. Aber wo findest Du das überhaupt? Also jedenfalls bei ernstzunehmenden Kollegen findest Du das nicht. Oder sag mir ein Gegenbeispiel von irgendeinem Autor, Sänger mit Substanz, der sich also konkret im Lied so äußert: "Jetzt müßt Ihr aber das und das machen ..." oder so. Das ist doch irgendwie peinlich. Das gehört einfach nicht in ein Lied. Das sind Schlußfolgerungen, die man als Mensch zieht, hoffentlich. Mit sowas belästigt man doch nicht den Hörer, mit irgendwelchen Aufforderungen. Außer"Mach auf, aber das ist ja eher privat.

Webverstärkung: Schön, daß du das so deutlich sagst, wo man Dich doch eine zeitlang als Oberlehrer tituliert hat. War das immer nur ein Plakat und etwas, was Dich überhaupt nicht trifft?

Heinz: Der Oberlehrer ist einfach nur ein gehässiges Wort. Es eine 20 Jahre alte Infamie. Es hat einfach nichts mit der Wahrheit zu tun. Wenn man über sowas redet wird man doch leicht verbittert. Ich habe mich immer, mein Leben lang, darüber gewundert, wieviele Leute in Jeans und Cowboystiefeln rumlaufen und angeblich mehr aussehen wie ein Rocksänger als ich, aber wieviel Oberlehrer da drinsteckt. Ich sag mal sorum: Wenn es einen gibt im Land, der es nicht ist, dann bin ich es! Ich seh nun mal so aus, das ist vielleicht mein Pech, aber ich bin es nicht. Ich bin das Gegenteil davon in meiner Arbeit.

Webverstärkung: Wie meinst Du, kommt es dazu, daß Dir so viele Klischees angedichtet werden?

Heinz: Weil ich einfach durch mein Vorhandensein ein Ärgernis bin. Ich gehöre nicht in diese Szene. Ich passe nicht in die Wahrnehmung. So hat man nicht auszusehen, so hat man nicht zu sprechen, so ist man nicht als Rockmusiker. Ich gehöre da in den Augen vieler Leute nicht hin. Nun, wir Deutschen sind eine sehr hämische Nation, eine sehr neidische und mißgünstige, und wenn es negative Etiketten gibt über jemanden, nicht nur über mich, werden sie sehr gerne und sehr leidenschaftlich immer weiter kolportiert. Und daß ich vielen schwachsinnigen und Möchtegern-Journalisten, die es leider gibt, angst mache oder sie ärgere, weil ich einfach mehr weiß als sie, das ist mir klar. Ich wundere mich manchmal, was für Leute in diesem Land einen Griffel halten dürfen. Es gibt leider viel zu wenig Journalisten, mit denen man vernünftig reden kann. Und da sie aber letzten Endes als "Heckenschützen" ihre Artikel schreiben, wenn ich nicht mehr da bin und mich nicht mehr wehren kann, ist es klar, daß sie das ausnutzen. Und auf der anderen Seite: ein gewisses Mindestmaß an Verständnis bringe ich ja für so ein Etikett auf. Jeder braucht irgend etwas, was man ihm anpappen kann. Und da ich ein sehr unscheinbares Leben führe, keine Skandale habe, da über mein Privatleben nichts zu berichten ist, kauen die sich wahrscheinlich vor Verzweiflung die Nägel ab: "Was sagen wir denn bloß über den? Wie können wir den denn überhaupt kenntlich machen?". Und dann ist dieses verhängnisvolle Wort da. Irgendjemand hat das aufgebracht, 1981 – was weiß ich. Ich glaube, es steht sogar auf der Rückseite meines ersten Albums drauf. Dieser Journalist von der "Petra", der diesen Covertext geschrieben hat, hat dieses Wort, glaube ich, benutzt und in Umlauf gebracht. Und der hat das nicht einmal böse gemeint. Ich habe mich mit dem Mann lange unterhalten. Er wollte einfach nur etwas markantes über mich sagen. Und das wurde eine Verhängnisgeschichte. Es wurde ein Katastrophenetikett, weil es einfach tatsächlich – das glaube ich auch! – Leute von mir abhält. Leute, die sich mit mir beschäftigen könnten, kommen gar nicht auf die Idee, daß sie da was finden würden, was sie vielleicht ganz klasse fänden.

Webverstärkung: Es tut mir ja schon fast leid, daß ich darauf gekommen bin.

Heinz: Sehr wichtiges Thema!

Webverstärkung: Wie wär's denn damit: Nutze doch jetzt die Gelegenheit und entwirf ein anderes Etikett!

Heinz: Nein, sowas kann man nicht entwerfen. Das ist alles gut gemeint, aber da kann man nichts entgegnen. Ich bin jetzt befördert worden. Ich bin jetzt ja der Rock-Philosoph oder ich bin der Rock-Vordenker. Jetzt bin ich neuerdings der Rock-Professor. Also allmählich macht man Karriere im Beamtentum.

Webverstärkung: Der Rock-Professor geht – glaube ich – durch.

Heinz: Als Professor, das kann man ja aushalten. Das klingt nicht so negativ. Obwohl es immer noch ein Stigma ist! Denn in Deutschland, sieht doch die gemachte Meinung über Rockmusik so aus – Rockmusik muß dumm sein. Rockmusik und Intelligenzia, das ist schon mal ganz schwierig. Und dieses Vorurteil pflegen eben die Journalisten auch sehr gerne, die selber keine Ahnung haben und unbedingt möchten, daß sie ihrem Objekt noch überlegen sind.

Ich lese aber jetzt immer häufiger Rock-Professor oder Rock-Dichter oder Rock-Vordenker oder Rock-Intellektueller, das ist jetzt das Wort. Das ist ja nicht ganz so ohrfeigenmäßig wie Oberlehrer. Und damit kann man leben.

Webverstärkung: Eine späte Genugtuung? Oder hast du das eh abgehakt?

Heinz: Altersmilde. (lacht)

Webverstärkung: Verstehe. Fishing for compliments. Konkret zum Album. Es sind mehr Anglizismen als je zuvor drin. Als jemand, der auf die deutsche Sprache ja sehr viel Wert legt: Wieviel ist das für Dich Stilmittel? Wieviel ist das Mit-der-Zeit-Gehen? Es wird ja bei uns viel mittlerweile Englisch oder "Dinglisch" geredet. Oder ist das eine zufällige Häufung?

Heinz: Mir ist da gar keine Häufung aufgefallen. Aber man muß ja einfach darauf auch bezug nehmen, daß es in der Gesellschaft so ist. Das spiegelt man dann auch, klar.

Webverstärkung: Also reine Reflexion?

Heinz: Glaub ich schon. Und wenn ein Zeile vorkommt wie: "You're ready for take-off", das kann man einfach nicht besser sagen. Das dauert nun mal, das klingt im Deutschen doch umständlicher. Natürlich kann ich das auch irgendwie auf Deutsch sagen, aber da es um ein Raumschiff auf Venusmission geht, also um Weltraumfahrt, wenn auch nur im poetischen Sinne, dann nimmt man schon die Formulierung, die da hingehört. Das ist nun mal englisch und das ist ja in dem Fall auch in Ordnung. Es ist ja auch nicht lächerlich. Es gibt ja viele Anglizismen heutzutage, die ich einfach grotesk finde, wo es deutsche Ausdrücke gibt, die auch sinnvoll sind und die trotzdem ersetzt werden, um irgendwie schicker zu wirken.

Webverstärkung: ... die es dann nicht mal auf Englisch gibt. Wie "Handy" ...

Heinz: ... oder zum Beispiel "das macht Sinn", das merkt ja schon keiner mehr, daß das auch anglizistisch ist: "it makes sense". Das merken wir gar nicht mehr. Unsere Sprache übernimmt einfach, was noch deutsch klingt aber eigentlich schon englisch ist.

Webverstärkung: Das liegt aber auch an der Kultur, die eigene Sprache zu verhunzen. Wenn man so in die Zeitungen schaut, wundert man sich, was auf der ersten Seite schon an grammatikalischen Fehlern gebaut wird.

Heinz: Deswegen bin ich ja auch in der Bildungspolitik ein bekennender Konservativer, und ich bin, da ich ja vielleicht ein bißchen was von der Sache verstehe als gelernter Studienrat, ganz klar für eine Re-Reformation des Schulsystems. Die Grünen und die SPD machen ja immer Polemik dagegen und sagen, es wäre eine Rückkehr in die fünfziger Jahre; ich würde es für einen Durchbruch in die Zukunft halten, wieder das klare, dreigegliederte Schulsystem zu haben. Und das, was die Grünen als die Pauk-Schule bekämpfen, sehe ich einfach etwas gelassener als die Schule, in der was gelernt wird. Und dafür bin ich sehr.

Webverstärkung: Front-teaching und alles...

Heinz: Ja. Ja!

Webverstärkung: Humanistisches Gymnasium.

Heinz: Jawohl!

Webverstärkung: Griechisch ...

Heinz:Ich halte das nicht für einen Rückschritt in die verknöcherten Fünfziger, sondern für einen Durchbruch in eine bessere Zukunft und für unsere letzte Rettung, wenn wir nicht Entwicklungsland werden wollen.

Webverstärkung: Das Problem ist ja heute auch, daß viel zu viel an Wissen vermittelt werden muß. Kinder müssen lernen, mit Computern umzugehen und gleichzeitig bleiben die klassischen Lehrinhalte gültig.

Heinz: Das ist sicherlich richtig, und diese Klage ist berechtigt und schon sehr alt. Bereits Goethe hat schon zu seiner Zeit gesagt, er könne sich nicht mehr vorstellen, daß ein Mensch, der sich ganz und gar der Bildung widmen kann, noch in der Lage wäre, das ganze Spektrum menschlichen Wissens zu überschauen. Und seitdem ist es natürlich exponentiell schlimmer geworden. Umso wichtiger ist es, daß man sich auf Grundlagen einigt und die dann aber auch wirklich lehrt. Ich hätte gar kein Problem, mich als Philologe, der ich bin, mit einem Menschen zusammenzusetzen, der beispielsweise etwas von Physik versteht, und einen Kanon von Dingen, die so eine Art Fibel sind, ein Grundwissen, zusammenzustellen. Was mich aufregt ist diese bildungspolitische Haltung, die ich eben etwas polemisch angedeutet habe, daß alles nur noch über Streicheleinheiten gehen soll. Das geht leider nicht. Es gibt Dinge, die man einfach lernen muß – das bleibt meine Überzeugung –, die keinen Spaß machen. Die gehören dazu. Das wird von bestimmten Leuten der Linken einfach verdrängt. Das soll nicht mehr stattfinden. "Wenn ich Dich nicht überzeugen und es Dir gerne einflößen kann, dann vergessen wir's doch". Auf diese Weise ist Erziehung nicht machbar. Das endet im lallenden Chaos. Ich glaube auch, daß wir Deutschen uns da wieder mal auf einem sehr einzelgängerischen Sonderweg befinden, und daß Bildungspolitik in anderen Ländern sehr viel ernster genommen wird und – wenn man so will – sehr viel "konservativer" betrieben wird, egal mit welchen Inhalten. Wenn man sich beispielsweise Frankreich ansieht: Egal, ob man als Absolvent hinterher zur KP oder zu den Gaullisten geht, alle haben sie ein sehr strenges, sehr geregeltes und sehr paukiges Schulsystem durchlaufen – und haben richtig was in der Birne.

Deutschland krankt also – und da sind wir ja bei einem meiner Hauptthemen angekommen – einfach daran, daß die deutsche Linke es sechzig Jahre nach dem Krieg immer noch nicht fertigbringt, solche Begriffe wie "Leistung" und "Elite" einigermaßen vorurteilsfrei in den Mund zu nehmen. Jede Art von Erziehung, die zu Leistung führt, steht unter Elite-Verdacht, und jeder Elite-Verdacht ist ein Nazi-Verdacht. Und was steht letztlich für ein Denken dahinter? "Leistung? Eliten? Nazis? Haben die am Ende doch etwas richtig gemacht oder was soll ich daraus folgern?" Das ist diese kranke deutsche Selbstdemontage, "Wir dürfen nicht wieder besser sein wollen als der Rest der Welt!" Mir würde es ja schon reichen, wir wären wenigstens wieder genausogut wie der Rest der Welt! Dann hätten wir heutzutage ja schon viel erreicht.

Webverstärkung: Um das also in eine Schlußfolgerung zu leiten: Wo es denn nun so ist wie es ist, und wo die Geschwindigkeit, mit der alle dümmer werden, auch noch ständig zunimmt, und nachdem diese unselige Pisa-Studie über uns hereingebrochen ist – es wird wohl nicht die letzte sein – siehst Du eine realistische Chance, daß es irgendwann wieder besser wird mit uns?

Heinz: In dieser Frage, die mich als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern ja auch privat betrifft, wünsche ich mir eine konservative Wende in der Bildungspolitik.

Webverstärkung: Ich nehme an, die beiden können "daß" und "das" unterscheiden?

Heinz: Ich bin mir da nicht bei beiden ganz sicher. (lacht)

Aber das ist für mich ein ganz wichtiges Thema, und ich bin mir sicher – nein, ich weiß es sogar, daß manche Politiker innerhalb der SPD diesen Punkt in ihrem Gesamtkonzept auch nicht gutfinden, da einfach runterschlucken und mitmachen und ihren Vordenkern mit einem gewissen Phlegma leider das Feld überlassen. Ich kann als gewesener Praktiker nur sagen, für mich ist das ein Irrweg, den die Sozialdemokraten da in den sechziger Jahren eingeschlagen haben. Ich bin ein ganz normaler, sich in guter und großer Gesellschaft befindender Gesamtschul- und Orientierungsstufengegner und bin sehr froh, daß das jetzt hier wieder abgeschafft wird, zumindest letztere. Es gibt nämlich nachvollziehbare Zahlen darüber, daß die Schwachen so nicht gefördert und die Starken vernachlässigt wurden. Die Orientierungsstufen haben also das Gegenteil von dem bewirkt, das man eigentlich erreichen wollte.

Sozusagen wie die DDR, wo das Vorhaben ja auch gut war. (lacht)

Du merkst, so wie ich kann nur ein verbitterter Ex-Linker reden. (lacht noch mehr)

Webverstärkung: Hättest Du also Lust, Frau Bulmahn (die Bildungsministerin) zu beerben?

Heinz: Das wäre eine Offerte, die sich nicht stellt, aber eine, über die ich zumindest lange nachdenken würde. Das ist eine Aufgabe, die ich jedenfalls nicht sofort von der Bettkante stoßen würde – aber die stellt sich ja nicht wirklich.

Webverstärkung: Verlassen wir die Politik. Ich würde gerne noch etwas über die Platte reden.

Heinz: Was mir sehr gefallen hat, war Heiners ganz vergnügte Reaktion auf die Platte. Es war für ihn sicher eine große Anspannung, das zu hören. Er war auch immer sehr neugierig, wollte nicht warten, bis das Cover fertig ist. Sobald alles gemastert und gemischt war, wollte er sie haben, hat richtig Druck gemacht und wollte es wissen. Dann saß er da und hat sich alles sehr aufmerksam angehört, übrigens auch sehr gut gelaunt. Ich war da wesentlich angespannter: Als derjenige, der etwas zu präsentieren hatte. Er hat aus verständlichen Gründen nichts über den Gitarristen gesagt (das wäre wohl auch etwas zu viel verlangt), aber ganz spontan, nachdem der letzte Ton verklungen war, sagte er zum Beispiel: "Also von dem Trommler hast Du sehr profitiert". Das hat Jens Carstens auch sehr gefreut. Und das ging ganz und gar nicht gegen CC. Ich denke, daß ich von allen Beteiligten sehr profitiert habe. Jörg Sander, das kann man wohl ruhig so sagen, ohne irgend jemanden zu verletzen, ist einfach ein Genie an der Gitarre, er ist vom Typ auch ganz anders als Heiner. Heiner ist immer auch Autor, und sein Spiel ist immer auch mit Komposition verbunden, dadurch repräsentiert er ganz konsequent eine Art. Jörg ist überhaupt kein Autor, der spielt einfach alles, was man ihm vorlegt, so, daß man keinen Wunsch mehr hat. Der Mann hat eine Bandbreite von Steely Dan (Ich sitze so da) bis AC/DC (Himmelfahrtskommando). Heiner ist nicht so ein Chamäleon, der muß eine bestimmte Sache verfolgen.

Ich glaube, ich habe auch das Recht zu sagen, ich hätte davon profitiert. Ich habe unheimlich lange für diesen Prozeß gebraucht und dafür, mich damit anzufreunden, mich all diesen Leuten anzunähern, die mich herausgefordert haben, über diese Klippe zu springen und zu schauen, was denn nun wirklich passiert.

Nun ist es eben so ausgegangen, und wir können nur noch abwarten; der Rest liegt nicht in unserer Hand.

Heinz Rudolf Kunze & Webverstärkung (Foto von Gerald Erdmann)Webverstärkung: Da kommt Heiner gerade – das interessiert uns natürlich brennend – Kann man also sagen, daß Ihr weiterhin ein entspanntes Verhältnis habt?

Heiner: (sieht Heinz an, grinst) Ich bin ja sehr gespannt was jetzt kommt!

Heinz: Wann hatten wir denn jemals ein entspanntes Verhältnis? (lacht)

Heiner: Zum ersten Mal seit vielen Jahren ist das Verhältnis entspannt! Vorher war es immer streßbeladen, die neue Platte, die neue Tournee! Ständig neue Ideen ... Jetzt ist es entspannt.

Heinz: Jetzt bin ich ja nur noch der Textlieferant für das Musical, muß nicht mehr am Mikrofon für alles geradestehen. Es ist viel angenehmer, sollten wir immer so machen!

Heiner: Ganz genau! Laßt uns Essen gehen!

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