Von größter Euphorie bis zur Verdammung
Lust, Wut und Trauer: ON-Interview mit dem Rock-Poeten Heinz Rudolf Kunze
ON: Herr Kunze, der spirituelle Song Abschied muß man üben vom Halt-Album wurde von der Realität eingeholt. Erst der Verlust des musikalischen Wegbegleiters Mick Franke und vor wenigen Wochen der Tod Ihres Vaters. Das Konzert in der alten Heimat gewiß unter emotionalen Vorzeichen?
Kunze: Das ist richtig. Man muß natürlich immer damit rechnen, daß diese Situation, die das Lied beschreibt, ganz konkret und dramatisch erlebbar wird für einen selbst.
ON: Bleiben wir bei der Trauerarbeit. Elfter September nennen Sie Ihren poetischen, gewohnt drastischen Kommentar zum Anschlag in New York. Schon vertont?
Kunze: Gut getippt. Er ist gerade dabei, vertont zu werden. Aber das muß noch warten. Ich habe den Text ins Internet gestellt, weil mein Webmaster mich darum gebeten hat. Das ist ja übrigens bei mir gar nicht üblich, daß ich so schnell reagiere. Aber dieses Vorkommnis hat mich doch wie uns alle umgehauen und mich an den Schreibtisch getrieben. Das mir der Musik geht nicht ganz so fix wie mit dem Denken. Ich bin natürlich nicht schlauer als die Leute, die in den Medien die Problematik rauf und runter diskutieren. Ich mache mir natürlich auch Sorgen, daß alles aus dem Ruder läuft und zu einem Krieg der Welten, Kulturen und Religionen ausarten könnte. Dann gute Nacht, Marie!
ON: Konzerte im guten alten bzw. völlig neuen Hyde Park kurz vor dem 20jährigen Bühnenjubiläum – dazu gibt's doch bestimmt einen Evergreen aus der Anekdotenkiste?
Kunze: O ja. Mit dem alten Hyde Park, als er noch an der Rheiner Landstraße war, verbinde ich sehr viel. Das war meine Stammkneipe, da bin ich dauernd gewesen, habe Billard gespielt und Leute getroffen. Und im Folge-Park bin ich zwar nie aufgetreten, bin aber häufig als Konzert-Gast dagewesen. Fugazi zum Beispiel – das war sensationell.
ON: Ein paar Worte zum ersten Teil der Halt-Tour und zur Resonanz auf das wie im Brit-Pop-Windkanal gebürstete Album, textlich wie stets Crash-Test und kritisches Szenario. Wie begegnen die Fans "Kunze 2001"?
Kunze: Ich denke, daß die Leute das mehrheitlich sehr gut angenommen haben. Was Kritiken angeht – mal wieder rauf und runter, hin und her, von größter Euphorie bis zur Verdammnis. Die Tour, in Osnabrück ja auf der Zielgeraden, wird eine sehr lange gewesen sein. Vom Verkauf her war die Vorgänger-CD Korrekt erfolgreicher, der Run auf die Konzerte war dafür diesmal größer.
ON: Dramaturgie, Qual der Wahl unter nunmehr rund 250 veröffentlichen Titeln – wie geht man da vor?
Kunze: Wir haben im Sommer ja nach dem ersten Teil der Tour auch draußen gespielt mit einem etwas anders zusammengesetzten Programm. Jetzt machen wir von der Stückauswahl so eine Art Mischung.
ON: Der Evergreen Dein ist mein ganzes Herz wird vom Publikum wohl mehr geliebt als vom Meister selbst?
Kunze: (lacht) Okay. Ich glaub, wir spielen es wieder. Ganz klassisch.
ON: Welche musikalischen Satelliten kreisen momentan über Kunzes CD-Player?
Kunze: Ich bin sehr angetan vom neuen Dylan. Das ist ein Album, mit dem könnte der große alte Mann vielleicht mal ein paar Leute rumkriegen, die sonst sagen: "Dylan ist nicht meine Baustelle". In einer Kneipe, wo solche Musik läuft, würde ich gerne ein Bier trinken. Dann bin ich sehr begeistert von der aktuellen "Spiritualized", eine völlig wahnsinnige Truppe, gigantomanische Musik, Chöre, Orchester, von Richard Wagner bis Pink Floyd augenzwinkernd alles drin. Und dann, entdeckt im "Zweitausendeins"-Katalog, haut mich eine ganz alte Jazz-Platte um. Charles Mingus: "The black saint & sinner Lady" – eine wahre Jazz-Sinfonie, 1995 neu veröffentlicht. So etwas intensives habe ich lange nicht gehört.
ON: Literat, Übersetzer erfolgreicher Musicals, Texte u. a. für Herman van Veen – wie sieht denn ein Kreativ-Tag aus, wahrscheinlich die reinste Zettelwirtschaft?
Kunze: Morgens muß erst mal 'ne Weile rumtelefoniert werden, dann setz ich mich hin und les irgendwas, hör Musik oder beides gleichzeitig und warte darauf, daß mir irgendwas einfällt. Und das passiert dann Gott sei Dank relativ häufig. Dann geh ich an den Schreibtisch und fang an zu basteln.
ON: Mit Badelatschen faul am Strand oder mit der Gartenschere – das paßt irgendwie nicht ins Kunze-Bild. Wer kreativ ist, muß doch auch mal entspannen?
Kunze: Klar. Ein Einfall kann auch beim Spazierengehen mit meinen Hunden kommen. Man ist besser beraten, wenn man immer einen Notizblock bei sich hat. Richtig entspannen? Da habe ich manchmal ganz dämliche, richtig spießige Gewohnheiten. Ich guck auch gerne mal einen "Tatort" oder so. Und wenn's hart auf hart kommt und alles verspannt ist, dann hilft autogenes Training.
ON: Im Januar 2002 erscheint das 22. Album mit dem wieder doppelbödigen Titel "Wasser bis zum Hals steht mir" raus. Was ist zu erwarten?
Kunze: Das ist ein rein literarisches Programm, die Golem-Fortsetzung. Aber diesmal gibt's um das gesprochene Wort herum viel Elektronik, und hier und da ist sogar ein Rhythmus erlaubt. Keine trockene Lesung also.
ON: Pete Townshend gehört ja zu Ihren Helden. Gibt's irgendwann eine Kunze-Rock-Oper oder ein Konzeptalbum?
Kunze: (lacht) Ich kann das nicht ausschließen. Aber bisher ist mir nichts eingefallen.
ON: Kollege Sven Regener von "Element of Crime" ist mit seinem launigen Roman-Debut "Herr Lehmann" sehr erfolgreich. Ein Kunze-Roman, nur eine Frage der Zeit?
Kunze: Ich hoffe. Aber ich bin bisher trotz meiner sechs Bücher ja ein Mann der kleinen Form. Der zusammenhängende große Prosa-Text – nach dem sehne ich mich auch. Vielleicht gelingt er ja irgendwann.
ON: Sich 20 Jahre zu behaupten, das heißt was. Radio und Industrie setzen ja verstärkt auf Austauschgesichter. Hat's früher mehr Spaß gemacht?
Kunze: Man soll die Vergangenheit auch nicht glorifizieren. Sicher bleibt es nicht aus, daß es gewisse Gewöhnungen und Routinen gibt. An jede Platte und an jede neue Tour geht man ran, als ob es um wirklich etwas geht. Man kann verlieren und viel falsch machen. Letztendlich ist das ein Job, für den man dankbar sein darf, weil man relativ selbstbestimmt schalten und walten kann. Natürlich muß man auch gewisse Kompromisse machen – aber ich glaube doch wesentlich weniger als die meisten Arbeitnehmer.
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