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1987

Auf Tournee fühlt er sich wie ein Vampir

"Ich kann Ihnen leider nicht mit Geschichten aufwarten, meine Jugendzeit ist dermaßen ereignislos verlaufen, das ist schon unnormal", sagt Heinz Rudolf Kunze. Sein Lebenslauf liest sich entsprechend geradeaus: 1956 als ältester von zwei Söhnen eines Lehrerehepaares in Osnabrück geboren, Gymnasium und Klavierunterricht ("Ich war ein echter Streber"), Studium der Germanistik und Philosophie bis zum Lehramtsexamen. 1980 schickt er ein Tonband mit Liedern, die er bis dahin nur im stillen Kämmerlein gesungen hatte, an die Jury des "Deutschen Pop-Nachwuchs-Festivals" in Würzburg. Er wird eingeladen, gewinnt auf Anhieb den ersten Preis und hat kurz danach einen Schallplattenvertrag. Im Oktober brachte er seine sechste LP Wunderkinder (WEA) heraus, am 15. Januar geht er wieder auf große Deutschland-Tournee (48 Konzerte).

Der Biedermann mit den brandheißen Songs

Bekannt wurde er als singender Studienrat, der biedere Lieder mit hervorragenden Texten machte. Jetzt verpackt Heinz Rudolf Kunze seine schönen Worte in heiße Rockmusik – und hat riesigen Erfolg. Aber der 30jährige, der gerade wieder auf eine große Tournee geht, ist immer noch alles andere als ein Glamourstar.

Hauptbahnhof Osnabrück. Aus dem vollen Intercity Hamburg-Köln steigen nur zwei Fahrgäste aus: Fotograf Klaus Hemme und ich. Der Bahnsteig ist gespenstisch leer an diesem dunkelgrauen Herbst-Dienstagmittag. Nur ganz am Ende eine kleine Gestalt – Heinz Rudolf Kunze. Dunkelblauer Nadelstreifen-Zweireiher, Marke Secondhand, den Jeans-Hemdkragen übers breite Jackettrevers gelegt, weißes Einstecktuch, weiße Turnschuhe; in der einen Hand, tatsächlich, ein schwarzes Herrentäschchen, in der anderen einen Regenschirm. Herr Kunze, wie ihn kein Herr Hinze so trefflich imitieren könnte. Als wir auf dem Parkplatz auf seinen Wagen zugehen, bin ich zum erstenmal kurz irritiert. Aber Herr Kunze steuert haarscharf an dem Mercedes 380 SE vorbei, schließt seinen Ford Sierra Kombi auf und fährt uns zu sich nach Hause. In seine Backstein-Doppelhaushälfte mit ein paar Quadratmetern Garten und einem Apfelbaum darin. Schäferhund Ringo und die drei Katzen sind da, Frau Gila und Söhnchen Paul sind bei den Schwiegereltern. Nach ein paar Stunden, in denen Herr Kunze fast pausenlos ätzende Zigarillos raucht, siezen wir uns immer noch. Das ist sehr ungewöhnlich für Leute aus der Musikszene, aber auch Herr Kunze ist ungewöhnlich für die Szene.

Brigitte: Sex, Alkohol und Drogen – es heißt, Rockstars können gar nicht leben, wenn ihnen eins davon fehlt. Welche Drogen nehmen Sie?

Kunze: Wir alle in diesem Beruf trinken zuviel, glaube ich, aber mit anderen Drogen habe ich keine Erfahrung.

Brigitte: Nicht einmal probiert?

Kunze: Nein. Ich habe Angst vor meiner Maßlosigkeit. Es könnte mir so gut gefallen, daß ich nicht kontrolliert damit umgehe. Ich kenne einige Leute, die so Sachen schon jahrelang nehmen. Und ich meine, es verändert die Persönlichkeit eben doch. Es macht nicht wacher oder tiefer, sondern gleichgültiger und verschrobener.

Brigitte: Und wie ist es mit dem Sex? Haben Sie Groupies?

Kunze: Bei den Heavy-Metal-Leuten laufen wohl noch klassische Groupies herum, die wirklich Männer sammeln. Wenn ich auf meinen Tourneen Frauen kennenlerne, die wollen dann immer gleich heiraten. Das liegt wohl an meiner Ausstrahlung. Aber ich bin ja schon verheiratet.

Brigitte: Nur – Sie nehmen Ihre Frau nicht mit auf Tournee und gestatten auch ihren Bandkollegen keine Frauenbegleitung. Findet da monatelang Sex nicht statt?

Kunze: Nicht unbedingt nicht. Also, ich lege halt großen Wert darauf, daß wir für die zwei, drei Monate einer Tournee so eine Art Team-Wahnsinn entwickeln. Und ich finde es angenehm, wenn der Damenbesuch auf die freien Tage beschränkt bleibt. Wenn einer seine Frau in den Bus hereinholt, und die fährt dann mit, und die anderen sitzen ohne Frau da, dann gibt es Spannungen, Neid, Einsamkeitsgefühle. An so einem Tournee-Tag fühle ich mich, wie sich ein Vampir tagsüber im Sarg fühlen muß. Man wird im Kasten durch Deutschland gefahren, und abends, wenn es dunkel ist, darf man zwei, drei Stunden raus. Die übrige Zeit wird man so von der Außenwelt abgeschirmt, daß man sich als Unperson fühlt. Wenn man so Zeug schreibt wie ich und das den Leuten vorsingen will, muß man sich wahnsinnig konzentrieren. Man muß sich in einer Weise da hineinsteigern, die nach ein paar Abenden unwillkürlich zu schauspielerischen Verrenkungen führt. Man kann einfach nicht 55 Abende hintereinander sein ganzes Herzblut ausgießen.

Brigitte: Im Bus, auf der Bühne, hinter der Bühne immer nur Männer unter sich. Kein Problem?

Kunze: Naja, irgendwann kommt natürlich diese eigenartige Fußballer-Umkleidekabinen-Atmosphäre auf. Wo man sprachlich und von der Wahrnehmung her ein bißchen verroht. Unsere Freundinnen und Frauen haben wahrscheinlich schon etwas Mühe, uns wieder hinzunehmen, wenn wir von so einem Trip zurückkommen.

Brigitte: Ihre Frau sieht man selten zusammen mit Ihnen in der Öffentlichkeit, und es ist auch kaum etwas bekannt über sie.

Kunze: Da gibt's kein Geheimnis, sie hält sich eben raus. Gila ist ein Jahr jünger als ich, wir kennen uns, seit wir 16 Jahre alt sind, wir haben 1979 geheiratet und seit gut einem Jahr einen Sohn. Gila hat Biologie und Germanistik gemacht, das erste Lehrerexamen und danach nichts mehr.

Brigitte: Also die klassische Hausfrau an seiner Seite.

Kunze: Sie macht meinen Bürokram – gegen richtige Bezahlung. Wenn ich jetzt sehe, wieviel Arbeit das ist mit dem Kind, kann ich mir gar nicht vorstellen, wie meine Frau da noch guten Gewissens weggehen könnte bei meinem zeitaufwendigen Beruf.

Brigitte: Und natürlich ist es auch sie, die kocht, bügelt, putzt?

Kunze: Ja, tut sie.

Brigitte: Und was macht Herr Kunze im Haushalt?

Kunze: Nichts. Ich weiß, wenn's gutgeht, noch, wo das Besteck liegt. Ich habe bei meiner häufigen Abwesenheit Schwierigkeiten, mir zu merken, wo die einfachsten Haushaltsgegenstände liegen. Insofern bin ich zum Aufräumen gar nicht tauglich.

Brigitte: Das ist ja eine ganz neue Ausrede. Sind Sie ein Macho?

Kunze: Dazu eigne ich mich überhaupt nicht. Ich bin mit vielzuwenig Durchsetzungswillen begabt. Rein handwerklich zum Beispiel bin ich so ungeschickt, daß ich nie in dieses Bild hineingeraten Könnte: Laß mich das mal machen. Ich muß in diesem Fall immer sagen: Mach du das bitte.

Brigitte: Sie leben in Osnabrück – nicht gerade die Metropole der deutschen Musikszene ...

Kunze: Ich mag wohl instinktiv ein wenig Distanz halten zu dieser Szene, zumindest was den Wohnsitz angeht. Es ist auch eine gewisse Trägheit, wir sind hier einfach hängengeblieben. Andererseits ist es ganz praktisch. Ich habe ungefähr gleich viel in Hamburg und in Köln zu tun. Osnabrück liegt genau dazwischen. Natürlich finde ich Berlin interessant, am liebsten möchte ich fraglos in München wohnen.

Brigitte: Ich hätte gewettet, der Kunze paßt am besten ins kühle Hamburg.

Kunze: Da würde ich sicherlich besser hinpassen, aber leben möchte ich lieber in München. Ich möchte nur nicht so aufgesogen werden in eine dieser Rockfamilies, weder in die Kölner Mafia noch in die Berliner Mafia. Da spielt jeder bei jedem mit, und am Ende klingen alle Platten gleich.

Brigitte: Die "Neue Deutsche Welle" ist längst im Sand verlaufen, Sie sind einer der wenigen, die noch erfolgreich deutsch singen. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Musikszene?

Kunze: Ich habe es bedauert, wie diese neue Welle kaputtgemacht wurde durch industrielle Mißwirtschaft, durch hektisches Einkaufen von Nichtskönnern und zu wenig Fördern von Könnern. Heute haben wir ja wohl, nicht nur in Deutschland, auch international, eine ganz flaue Situation. Es gibt keine erkennbare Avantgarde im Augenblick, keine überragende Figur, wo man sagen könnte: So wie der müßte man eigentlich sein.

Brigitte: Sie haben eine weitere LP gemacht. Was ist neu daran?

Kunze: Es ist nicht mehr wie früher der Herr Dichter mit seinen Mietmusikern, der etwas zum Vortrag bringt. Es ist eine sehr gut aufeinander eingespielte Kapelle, die eine ganz Menge Dampf entwickeln kann ...

Brigitte: ... Dampf machen viele. Was ist das musikalisch Besondere?

Kunze: Ich bin ein Besatzer-Kind, aufgewachsen mit angloamerikanischer Musik. Ich versuche, die Eckigkeit, die Kasernenhofqualität, aber auch die gedanklichen Qualitäten der deutschen Sprache zu versöhnen mit angloamerikanischen Rhythmen.

Brigitte: Wie kommen Sie auf Ihre ungewöhnlichen Texte?

Kunze: Meine Lieder spiegeln die Wahrnehmung wider, die ich mir stellvertretend für eine bestimmte Altersgruppe anmaße. Nämlich für jene Generation, die durch die zweifelhafte Gnade der mittleren Geburt für die Studentenbewegung zu jung war und für Punk schon wieder ein, zwei Jahre zu alt. Ich mache immer gern Rollensongs und schlüpfe für die Dauer eines Liedes in fremde Lebensläufe, in meinem neuen Song Kadaverstern sogar in den von Menschen vorzeitig beendeten Lebenslauf eines Tieres. Mal gucken, vielleicht bin ich bei der nächsten Platte schon ein Mineral ...

Brigitte: Sie sind seit vielen Jahren SPD-Mitglied, sympathisieren aber auch mit den Grünen. Haben Sie nach der "Wende" ein wenig resigniert?

Kunze: Wäre ich Studienrat geworden, wie es sich angebahnt hat, wäre ich sicherlich heute resigniert. Ich habe schon in meiner Referendarzeit erlebt, daß mir furchtbar traurige, müde und teilnahmslose Schüler gegenübersitzen, die durch nichts mehr erreichbar sind. Die auch den jungen, engagierten Lehrern einfach nur sagen: Laß mich in Ruhe und gib mir deine Punkte. Und ich habe auch schon die gutfrisierten und adrett gekleideten Damen und Herren der Jungen Union erlebt, die darauf warten, einem Fehltritte nachzuweisen. Wenn ich das jetzt noch jeden Morgen um acht Uhr vor mir hätte, wäre ich wahrscheinlich fertig. Da ich aber erleben darf, daß die Leute abends um acht freiwillig zu mir kommen, kann ich eigentlich nicht traurig sein.

Heinz Rudolf Kunze zündet sich in aller Bedächtigkeit eine dicke Zigarre an. Sein Gesicht verschwindet in einer Rauchwolke und signalisiert dann, daß er das Interview für beendet hält. Als ich ihn trotzdem bitte, zu einigen Stichworten jeweils einen Satz zu sagen, guckt er wieder freundlich.

Brigitte: Was fällt Ihnen ein zu ... Kohl?

Kunze: Eine Figur, an der irgendwie doch mehr dran sein muß, als es billiges Kabarett wahrhaben will.

Brigitte: Rau?

Kunze: Sicher keine politische Leuchte, so ein menschlicher Spezialist für das Allgemeine – aber besser als Kohl.

Brigitte: Reagan?

Kunze: Ein aufgepeppter Opa, den jeder als Großvater haben möchte; swingend, ein Kohl mit Groove.

Brigitte: Gorbatschow?

Kunze: Mach mir als Gestalt weniger Angst als Reagan.

Brigitte: Strauß?

Kunze: Würde ich gern einmal für die Brigitte interviewen.

Brigitte: Liebe?

Kunze: Gern wegfahren und auch gern wiederkommen.

Brigitte: Tod?

Kunze: Unfaßbar grausam, unverschämt, nur zum Schreien, ein Skandal, gegen den man immer anlebt.

Brigitte: Treue?

Kunze: Ein Wert für mich.

Brigitte: Gott?

Kunze: Die Kraft weiterzumachen.

Brigitte: Glück?

Kunze: Portugal, so ein Traum, irgendwann mal da zu leben.

Brigitte: Letztes Stichwort Geld. Sie haben ja mit Ihren letzten beiden LPs erstmals groß verdient. Werden Sie Ihren Lebensstil jetzt ändern?

Kunze: Meine Frau und ich, wir eignen uns nicht besonders für exzessive oder mit Glamour umgebene Lebensweise.

Brigitte: Was machen Sie am liebsten, wenn Sie zu Hause sind?

Kunze: Ich klappe das Sofa auf, hau mich lang und gucke Fernsehen. Egal, was kommt.

Dieter Kilian, Brigitte, Februar 1987

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