Cover der DVD-Box Man sieht sich

2005

DVD/CD-Set 25 Jahre HRK – Man sieht sich!

im Test von Holger Stürenburg

Das aufwändig produzierte Teil ist bei 'Turbine' (im Vertrieb von Al!ve) erschienen! 'Turbine' haben u.a. auch die tollen DVDs von Dieter 'Didi' Hallervorden und Oliver Kalkofe veröffentlicht!

Wenige Tage vor Weihnachten 2004 feierte der wahrscheinlich polarisierendste, wortgewandteste und lyrisch brillanteste deutsche Rockmusiker und Liederschreiber sein 25 jähriges Bühnenjubiläum: HEINZ RUDOLF KUNZE, 1956 geboren im Flüchtlingslager zu Espelkamp, wandelnde Zeitgeistablehnung, einst als "Niedermacher" gefürchteter Popliterat, Schriftsteller, Musicalübersetzer und Multiinstrumentalist, lud am 22. Dezember vergangenen Jahres seine Fans zu Zelebrationszwecken in den Hannoveraner Liveclub Capitol. Dies lag nahe, denn seit 1988 residiert HRK – wie ihn seine Anhänger gerne abkürzend nennen – in der Leinestadt, nachdem er bereits 1985 begonnen hatte, mit dem von dort stammenden Gitarristen Heiner Lürig zusammenzuarbeiten. Beinahe volle drei Stunden lang boten Kunze, seine unter dem Namen Verstärkung firmierende Begleitkapelle sowie die Gastmusiker Martin Huch (Lap Steel, Pedal Steel, Mandoline) und Wolfgang Stute (Percussions) die bedeutsamsten, wichtigsten, erfolgreichsten und beliebtesten Songs aus einem Vierteljahrhundert HRK auf. Dies hieß: Beißender Zynismus, sarkastischer Sprachwitz, bitterböse Gesellschaftskritik, liebevolle Gefühlsausbrüche, absurde Wortspiele und politisch unkorrekte Satire pur.

Anwesend war zudem das Fernsehteam der WDR-Sendereihe Rockpalast und zeichnete an insgesamt vier Drehtagen stolze 920 Minuten Filmstoff auf. Nach einer TV-Ausstrahlung des Jubiläumskonzertes und ein paar darum herum mitgeschnittenen Statements von Jubilar, seinen Musikern, Freunden und Fans, kam Gitarrero Heiner Lürig, seit nunmehr 20 Jahren nahezu ständiger Begleiter des widerspenstigen Rockentertainers, auf die Idee, das vollständige Szenario als DVD für all diejenigen Kunze-Liebhaber aufzubereiten, die vor einem Jahr nicht in Hannover dabei sein konnten, aber trotzdem die spezielle, siedendheiße Stimmung der konzertären Feierstunde im Capitol nachempfinden möchten. So erschien am 18. November 2005 die fulminante DVD-Box 25 Jahre HRK – Man sieht sich (Turbine/Alive), die mit spannendem, mitreißendem und informativem Material über den "Meister der Doppelbödigkeit" ("Rolling Stone") auf zwei DVDs und einer CD wahrlich nicht geizt. So befindet sich auf DVD-01 der ungekürzte Auftritt, welchen HRK samt Verstärkung am 22. Dezember letzten Jahres durchwegs freudig, stets abwechslungsreich und nicht selten von einer gewissen, kaum hörbaren, aber dennoch deutlich zu verspürenden Wehmut durchzogen, absolvierten. Die Setlist des Abends differierte nur wenig mit jenem Programm, das der "Verbalpyromane" ("Die Welt") im Frühjahr 2005 auf einer kleinen Deutschland-Tournee präsentierte, die im Oktober/November ihre Fortsetzung fand.

Das nun vollendete erste Vierteljahrhundert HRK läßt sich grob in vier Phasen unterteilen. Aus all diesen kamen - Dank vorliegenden DVD-Sets ab sofort für alle nachhörbar - die jeweils interessantesten Perlen zum Vorschein, wobei der Jubilar immer wieder seine eigenen Favoriten einstreute, die vom breiten Publikum häufig nicht so intensiv wahrgenommen wurden, wie es sich ihr Autor vielleicht gewünscht hatte.

In Phase Eins gab sich der damalige Mitt-20er HRK, der sich soeben entschieden hatte, sein Studium in Germanistik und Philosophie zugunsten einer profanen Musikerkarriere einschlafen zu lassen, oft radikalst kopflastig, auf sympathische Weise weltfremd, ein wenig verbissen, still, in sich gekehrt und weltschmerzend. Er kauerte gebeugt, geradezu ängstlich, hinter dem Piano und spie zu nicht selten übermäßig vertrackten Harmonien und Rhythmen Gift und Galle gegen die Gedankenwelt der in jenen Tagen vonstatten gegangenen "Bonner Wende". Kunzes Schallplattendebüt, die verletzend-verletzliche Bestandsaufnahme. in Sachen der schon damals längst etablierten, verfetteten und bewegungsunfähigen 68er-Generation, mittels derer er am 9. November 1980 im Würzburger Stadttheater alle elf Mitbewerber eines unter dem Motto "Folk, Lied Song" durchgeführten "Pop-Nachwuchs-Festivals" alt aussehen ließ, fand letztes Jahr in Hannover ebenso Eingang ins Konzertrepertoire, wie die 1982 veröffentlichte Ballade Regen in Berlin, die HRK einst dem Berliner Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay gewidmet hatte, der am 22. September 1981 bei der Räumung eines belagerten Hauses durch die Polizei zu Tode kam, oder das auf den ersten Blick so sanft, harmlos, beruhigend wirkende und doch so ungemein ausdrucksstarke, schonungslose, leidende Titellied der 83er-LP Der schwere Mut. Die kühle Synthifassung des Kinks-Klassikers Lola, dessen deutsche Übersetzung aus der Feder HRKs das ohnehin bereits phänomenale, kaum zu übertreffende englische Original weit in den Schatten stellte, läutete im Herbst 1984 das Ende der "depressiven" Periode des zu jener Zeit in Osnabrück wohnenden Popgenies ein; auf 25 Jahre HRK – Man sieht sich haben bei jener rockigen Verbeugung vor dem verführerischen Mannweib aus Dortmund-Nord muntere, kreischende Slidegitarren das schüchtern-mystische Computerflair der Studioeinspielung selbstverständlich längst abgelöst.

Den Frühsommer des Jahres 1985 kann man getrost als Geburtsstunde der zweiten Phase in der vielschichtigen Karriere HRKs bezeichnen. Der "heißblütige Fabulierer" ("Die Welt") hatte sich von seinem bisherigen Gitarristen, Komponisten und Mentor Mick Franke getrennt und statt dessen den schlaksigen Hannoveraner Heiner Lürig zur Verstärkung seiner Verstärkung angeworben, der Anfang der 80er für die obskure NDW-Combo "Bernward Büker Bande" in die Saiten schlug. Lürig trieb seinem neuen Chef schleunigst übertriebene Lustlosigkeit, Körperfeindlichkeit und Kopflastigkeit aus, so daß die kommenden Jahre ganz im Zeichen einer bundesweiten Hitparaden-Karriere des zuvor so verklemmten Piano-Zynikers standen. Samtweiche Balladen, lockerer Radiorock amerikanischer Prägung, fetzige Ohrwurmmelodien und – Kunze-Fans der ersten Stunde haben darüber manche Träne vergossen – leider auch des öfteren banale Mainstream-Popklänge führten den Um-ein-Haar-Studienrat in bislang so unbekannte wie für unerreichbar gehaltene Chartgefilde. So gedachte Kunze im Capitol u.a. der allerersten Gemeinschaftsarbeit von ihm und Lürig: Der regentrüb-nächtliche, gar etwas New-Romantic-angehauchte Gitarrenrocker Fallensteller begründete eine fabelhafte Kooperation zweier hochtalentierter Künstler, die ein in menschlicher wie beruflicher Hinsicht auf hervorragende Weise miteinander harmonierendes Team werden sollten, das inzwischen seit 20 Jahren fast pausenlos seiner Kreativität freien Lauf ließ. In diese Ära, deren unüberhörbarer Startschuß der luftig-leichte (wenn auch von den meisten gnadenlos mißverstandene) Popschlager Dein ist mein ganzes Herz darstellte, und die bis 1991/92 andauerte, fielen Kunzes kommerziell ertragreichste Radiodauerbrenner, gleichzeitig aber zusätzlich manch peinliche Schmonzetten aus den Untiefen des Allerweltspop im Niemandsland zwischen halbgaren Synthi-Oden und penetrantem Schlagerambiente. Zur Genüge gelang es Kunze und Lürig jedoch besonders in jener Zeitspanne, Massenkompatibilität mit höchstem textlichen Niveau zu verbinden. Dies belegen auf DVD-1 von 25 Jahre HRK – Man sieht sich z.B. der melodiöse 86er-Poprocker Mit Leib und Seele, der so mitsingbare wie zutiefst (selbst-)kritische Geschichtsnachhilfeunterricht Wunderkinder, im Rahmen dessen Kunze in garstigsten Worten die deutsche Nachkriegshistorie spöttisch und bedrückt zugleich nachzeichnete, die heißblütige, überkandidelte Detektivsaga Finden sie Mabel oder der Phil-Collins-ähnliche Europop/Discorock-Verschnitt Dies ist Klaus, Anfang 1986 Nachfolgesingle zu HRKs unumgänglichem Chartbreaker Dein ist mein ganzes Herz. Deftige Rock’n’Roll-Exzesse mit Ohrwurmgarantie verbreiteten die temporeichen Livefavoriten Alles was sie will (1989) und – ungeheuer wiegend, anregend, treibend, eingängig – Wenn du nicht wiederkommst (1991), melancholische Abgeklärtheit hingegen der gefühlvolle Gitarrenpopper Meine eigenen Wege (1988) und zerbrechlich Balladeskes der göttliche Pianoschleicher Ich habs versucht, einer der ganz wenigen tatsächlich erwähnenswerten Beiträge des ansonsten so unglücklichen 89er-Billigpopwirrwarrs Gute Unterhaltung.

Wäre der auf eben genanntem kreativen Tiefstpunkt eingeschlagene Weg ohne nachzudenken fortgesetzt worden, hätten wir HRK womöglich bald darauf im "Musikantenstadel" oder bei den "Lustigen Musikanten" bewundern dürfen. Doch die brachialen Gitarrengewitter der phantastischen 92er-Scheibe Draufgänger weckten Kunze und Band aus (un)seligen Popstar-Träumen auf und sorgten dafür, daß Phase Numero Drei zwar fernab des Hauptstroms (und darausfolgend auch der Singlehitlisten) stattfand, der zuvor so unschlagbare Lyriker Kunze aber wiederum zur Hochform auflief, was seine Truppe mit ausnahmslos anspruchsvollen, oft verschrobenen, aber keinesfalls unsympathischen Rocksounds untermauerte. Die zynische Ode auf den Einfachen Mann – eine grandiose Verhohnepiepelung des typischen mallorcaurlaubenden und doppelmoralinsauren BRD-Spießers –, der groteske Stirnenfuß, der humanistisch geprägte Pophymnus Aller Herren Länder, der draufgängerisch drauflosrockende Draufgänger oder die freundlich-gemächliche Liebeserklärung "Leg nicht auf" repräsentieren auf vorliegender DVD diesen von Kritikern in steter Regelmäßigkeit hochgradig goutierten, vom alltäglichen Poppublikum allerdings sträflich vernachlässigten Karriereabschnitt des dauerhaften Brillenträgers und Zeitgeistverächters aus Niedersachsen.

Nach dem Millennium trat Phase 4 in Kraft und HRK tat sich mit jungen Musikern aus dem Umfeld der "Hamburger Schule" zusammen, deren ungestüme Power dafür Rechnung trug, daß der weiterhin exzellente Songschreiber mit zunehmendem Lebensalter nicht etwa erstarrte oder auf der Stelle trat, sondern die um die 30 Jahre alten Jungspunde als profunde Inspirationsquelle nutzte. So kam er in die glückliche Lage, auch im neuen Jahrtausend, obgleich er sich selbst gerne augenzwinkernd als "Mann des vorigen Jahrhunderts" apostrophiert, die Zeichen der Zeit zu erkennen (dieselben lyrisch wie eh und je bestialisch auseinanderzunehmen) und dies in propere, fesche Rockklänge ohne Verfallsdatum zu verpacken. Daß dies sogar nach 25 Jahren härtester Bühnenarbeit künftig ebenfalls bedenkenlos möglich ist, bewiesen jene Songs, die Kunze auf seiner Jubiläumsparty vorab aus dem im März diesen Jahres dem Markt zugeführten 25. Album Das Original vorstellte: Kernige Rocker (Der zweite Mann) wechselten sich ab mit verzwickten Kompositionen, die das übliche Rockschema kraftvoll durchbrachen (K.), punkiger Offensive (Mein wahres Gesicht) oder einschmeichelnden Liebesschwüren (Geh mir nah). Zu einem kleinen Radioerfolg geriet die schwärmerische Mid-Tempo-Single Immer für dich da, als Erkennungsmelodie des diesjährigen Evangelischen Kirchentages diente die eher konventionell gehaltene Pop/Rock-Melange Mehr als dies.

Dies alles und noch viel mehr brachte der zeit- wie musikgeschichtliche Streifzug des HRK vor einem Jahr in Hannover direkt, schnörkellos und ungeschminkt ans Tageslicht, was nun endlich jeder HRK-Fan aus aller Herren Länder nochmals in perfektester Ton- und Bildqualität auf sich wirken lassen kann. 15 der besten Livesongs des Abends fanden außerdem Platz auf einer zu 25 Jahre HRK – Man sieht sich gehörenden Audio-CD, die darüber hinaus die bisher unveröffentlichte Simon-&-Garfunkel-Coverversion Bridge over troubled Water beinhaltet. Auf der zweiten DVD erfährt der Interessierte eine Menge über die Arbeitsweise von HRK, Heiner Lürig und der einzelnen Bandmitglieder, die Entstehung von Melodien und Texten sowie manch menschliche Facette des als ‚Workaholic’ bekannten Paradedichters. Fans äußern sich über ihre Vorliebe für den Jubilar; man erhält Einblicke in den Backstage-Bereich des Capitol und vernimmt sechs Songs aus den Proben für den Jubiläumsabend.

Heinz Rudolf Kunze kann ohne Abstriche als einer der Väter der derzeit mal wieder so stark boomenden deutschen Rockmusik bezeichnet werden; viele junge Künstler des Heute sehen in ihm ihr Vorbild. Trotz allen Lobes, aller Beliebtheit und manch unvergeßlicher Hitsingle, blieb HRK stets ein Unikum im einheimischen Rockgeschehen, ein kreativer, nicht zur Ruhe zu bringender Kopf, der ein ums andere Mal sprachliche wie politische Tabus brach und mit diesem Tun unzählige scheuklappenbehaftete Gutmenschen zur Weißglut trieb. "Mal ehrlich: Was wäre die deutsche Rockmusik ohne diesen Mann?" lautet die Eingangsfrage im, dem DVD-Set für uns Journalisten beigefügten Presseinfo. Die Frage ist recht einfach zu beantworten: Sie wäre langweilig, gleichförmig, unspektakulär, uninspiriert und – so ist zu vermuten – nach Abebben der Neuen Deutschen Welle und der daran anschließenden kurzzeitigen Deutschpop-Begeisterung eiligst wiederum ein konsequentes Randgruppe-Thema für verquere Elfenbeinturm-Intellektuelle geworden. Kunze sei Dank ist dieses Horrorszenario niemals mehr eingetreten!

Gesamtnote: 1

Holger Stürenberg, Dezember 2005

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