Ein deutsches Wunderkind
Seit einem Vierteljahrhundert auf der Bühne: Heinz Rudolf Kunze beim Jubiläumskonzert in Berlin
Er ist Dichter, Poet, Rocksänger, Musicalautor, Entertainer. Seit 25 Jahren steht Heinz Rudolf Kunze auf der Bühne. Das Original heißt die Platte zum Jubiläum. Jetzt spielte er neue Songs und alte Erfolge im Huxley's Neuer Welt.
Die Stimme erscheint unverschämt vertraut. Aber sie singt Englisch. Noch dazu singt sie zu getragener Klavierbegleitung das Simon & Garfunkelsche Lied von der "Bridge Over Troubled Water". Aber klar! Das ist Heinz Rudolf Kunze, der da aus den Lautsprechern klingt. Der wortgeharnischte Kämpfer für mehr deutschsprachigen Qualitätspop im Radio singt tatsächlich in der Sprache seiner musikalischen Vorlieben. Wenn auch nur aus der Konserve als Ouvertüre zum Berlin-Gastspiel in Huxley's Neuer Welt. Der Mann ist eben auch nach einem Vierteljahrhundert auf der Bühne immer für eine Überraschung gut.
Keiner zuvor hat es in diesem Land geschafft, hochwertig giftige, gedankenschwere deutsche Texte mit leichtgängigem, rauhrockigem, balladenschmerzendem Rock zu vereinen wie Heinz Rudolf Kunze. Das Wort wird bei ihm zum Messer, zum Schwert, zur Axt. Und die Klinge über die er springt, schärft er sich gleich selbst. Das macht der Germanist und Garagenrocker, der eklektische Rockmusiker und elektrische Liedermacher nun in professioneller Vielfalt tatsächlich seit 25 Jahren, die ihm, wie er auf offener Bühne bekennt, "wie gefühlte fünf" vorkommen.
Er hat die geliebte Musik seiner Idole von Wire über die Who bis zu Dylan zu seiner eigenen gemacht. Er hat sich an deutschen Denkern von Schiller bis Schopenhauer geschult. Er hat dem Deutschrock seinen schlechten Beigeschmack genommen. Dabei scheute er sich weder vor waghalsigen Experimenten noch vor massentauglichem Popeskapismus. Was sich in Höhen und Tiefen seiner Karriere niederschlug. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Das Bibelwort hat sich zumindest in Kunzes Fall nicht bestätigt. In Gefahr hat er sich oft begeben, umgekommen ist er noch lange nicht. Im Gegenteil.
Beim Konzert im Huxley's erlebt man einen Kunze in Bestform. Es gibt einige neue Songs. Und es gibt jede Menge alte Erfolge. Der Mann hat so viele brillante Songs, Gedichte und Kurzprosa geschrieben, daß es eine Qual sein muß, daraus eine Auswahl für gut zweieinhalb Stunden Konzert zu destillieren. Da muß vieles ungespielt bleiben. Weil vieles gespielt werden will. Gassenhauer wie Dein ist mein ganzes Herz nämlich. Oder Finden Sie Mabel. Oder Wunderkinder. Oder Lola.
Mit Immer für dich da eröffnen er und seine Band-Verstärkung den Abend. Turbopop mit rockigem Druck vom Das Original getauften neuen Album. Nach zweijähriger Selbstfindungspause gehört Gitarrist und Komponist Heiner Lürig wieder zur Crew, ist wieder Partner und Inspiration an Kunzes Seite. Das hat der neuen Platte gut getan. Und das tut auch im Konzert gut. Der junge, stilsichere Jörg Sander sorgt als zweiter Gitarrist für die härteren Töne. Matthias Ulmer an den Keyboards, Leo Schmidthals am Baß, Jens Carstens am Schlagzeug und Wolfgang Stute an den Percussions komplettieren die bestens aufeinander eingespielte Bruderschaft, die sich immer wieder nur durch einen Blick oder ein Lächeln versteht.
Auch für eine Überraschung sorgte Heinz Rudolf Kunze mit einem Lied, das er für den evangelischen Kirchentag im Mai geschrieben hat. Mehr als dies heißt die Hymne. Kunze kennt eben keine Berührungsängste. "Ich hab immer brav meine Kirchensteuer bezahlt", sagt er. "Jetzt hol ich mir ein paar Euro zurück." In Zwischentexten gibt er seiner absurd-satirischen Ader Zunder. Kürt Feinstaub zum neuen Modewort ("Deutschland sucht den Superfeinstaubsauger"). Räsoniert über Autoaufkleber die mit "Baby an Bord" prahlen. Jetzt fehle nur noch "Ich bremse auch für Halluzinationen".
In einem neuen und musikalisch extrovertierten Song entblößt sich Kunze als hemmungsloser Kafka-Verehrer (K.), in einem anderen geißelt er die mächtigen politischen Strippenzieher im Hintergrund der Mächtigen dieser Welt (Der zweite Mann). Aber die Zeichen stehen auf Rückschau. Mit Fallensteller erklingt der erste gemeinsam mit Heiner Lürig entstandene Song. 1985 war das. Und Bestandsaufnahme, die strophenreiche Ballade vom Verlust der Jugend von 1981, hat er aktualisiert. Geschrieben hat er sie mit 23 Jahren. "Es ist ein Wahnsinn, sich so früh schon zu erinnern, / wo wir doch wissen, daß es anderen nicht so geht, / und doch, wir lauschen auf das Ticken unserer Herzen, / in denen Achtundvierzig vor dem Komma steht". Wo andere Leute in anderen Konzerten "Zugabe!" rufen, singt es bei Kunze stets im Chor: "Wenn du nicht w-i-i-i-der kommst..." So auch im Huxley's. Und natürlich kommt er mit Verstärkung wieder. Mehrfach. Garantiert.
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