Artikelfoto

2002

Der pure Pop hat in diesem Programm wirklich nichts verloren: Heinz Rudolf Kunze in der Passionskirche am Marheinekeplatz.

Widersprecht mir!

Wasser bis zum Hals steht ihm gut: Heinz Rudolf Kunze setzt ganz auf das Wort

Solch ein volles Haus wünscht sich der Pfarrer täglich. Die Passionskirche am Marheinekeplatz ist bis auf die Empore ausverkauft. Doch die Kanzel bleibt verwaist. Die Orgelpfeifen sind stumm. Dafür predigt Heinz Rudolf Kunze, der Literat mit dem Rock 'n' Roll im Herzen, der Rockmusiker mit Drang zum geschliffenen Wort, von der Qual mit der Dummheit und von der Lust am Leben, singt von Befindlichkeiten eines kritischen Denkers - und redet in poetischen Zeilen Tacheles. Wasser bis zum Hals steht mir heißt sein drittes literarisches Programm. Das Wörtchen «gut» fügt er an diesem Abend noch an.

Nach Sternzeichen Sündenbock und Der Golem aus Lemgo hat Kunze erneut Kompositionen und Texte, die nicht so richtig in sein Rock-Programm passen wollen, zu einer bissigen, experimentierfreudigen, manchmal sperrigen, aber immer hochunterhaltsamen Collage zusammenpuzzelt, bei der er von Keyboarder Matthias Ulmer und Gitarrist Heiner Lürig versiert unterstützt wird.

«70 71, 14 18, 33 45, 89. Die Nummer stimmt. Aber keiner geht ran. Hallo Deutschland», winkt er zum Auftakt in Richtung der dicht gefüllten Holzbänke, während als Soundsamples die Stimmen von Wilhelm Pieck oder Willy Brandt durch den Raum mäandern. Wir sind mittendrin in Kunzes Weltbild-Labor, in dem er forscht, ergründet, ausprobiert, Worte zu Wurfgeschossen schmiedet. Er outet sich als «Mann des vorigen Jahrhunderts», der das blutleere zeitgenössische Entertainment der «chinesischen Wasserfolter» aussetzt und nicht ohne Selbstironie verbale «Bomben auf alle Filmpremieren und Echoverleihungen» wirft.

Der Rapsong Nichts ist so erbärmlich wie die Jugend von heute hat im Internet bereits für reichlich kreatives Kontra gesorgt. «Eine dämliche Mischpoke von lauen Genießern, ein verrotteter Haufen von gepiercten Spießern», grantelt Kunze da. Und fordert: «Widersprecht mir!» Widerspruch kam tatsächlich, und führte zum, wie er ankündigt, «ersten interaktiven Kunze-Song». Er peppt den Text mit der Antwort eines Markus Zander aus Berlin auf: «Nichts ist so erbärmlich wie die Rebellen von gestern!» heißt die lustvoll aufgenommene Gegenbeleidigung. Kunze rapt sie mit diebischer Freude und resümiert: «Hunde, die Rebellen beißen nicht.»

Der Mann liebt das Wortspiel. Der Mann liebt die Konfrontation. Der Mann weiß Wörter wie Handkantenschläge zu setzen, um im nächsten Moment auf höchst poetisch-romantische Weise Streicheleinheiten folgen zu lassen. Seinen Betrachtungen auf die Folgen des 11. Septembers lässt er eine deutsche Fassung von John Lennons Imagine folgen. Musikalisch werden düstere Stimmungen aufgebaut, Dissonanzen schaben sich an Wohlklang, Wort und Musik werden zu einer Einheit, die sich gängiger Songstruktur entzieht.

Doch natürlich mischt Kunze, der Vielseitige, auch einige ältere Lieder darunter. Die Auswahl ist interessant. Auf dem Weg in die Pause gibt's das rumpelige Rock-'n'-Roll-Stimmungslied Eine volle Stunde ohne Alkohol vom alter ego-Album, später erklingen Klassiker wie Der schwere Mut, die wunderbare Ballade Ophelia und das epische Frühwerk Bestandsaufnahme. Kunzes große Kunst, den Finger in offene Wunden der Gesellschaft zu legen und dennoch seinen Humor nicht zu verlieren, kommt gerade bei seinen musikalisch-literarischen Abenden voll zur Geltung. Die wenigsten hat es gestört, dass sie Dein ist mein ganzes Herz nicht mitsingen konnten. Der pure Pop hat in diesem Programm auch nichts verloren.

Peter E. Müller, Berliner Morgenpost, 18. März 2002

Copyright & Datenschutz Heinz Rudolf Kunze Top