Heinz Rudolf Kunze steht das Wasser bis zum Hals

2001

Presseinformation zu Wasser bis zum Hals steht mir – Das dritte "andere" Album

"Wir sind nicht die Einstürzenden Neubauten, aber die bestürzenden Altbauten." (Heinz Rudolf Kunze)

Der "andere" Kunze

Ein Popalbum? Ein Hörbuch? Ein Höralbum? Ein Pop-Buch? Die klare Antwort lautet: Jein!

"Das Letzte, was ich möchte," so Heinz Rudolf Kunze, "ist, daß mein Publikum glaubt, es handele sich bei Wasser bis zum Hals steht mir um ein reines Textalbum. Ganz im Gegenteil. Es ist ein lang gehegter Wunsch von mir, den Leuten etwas Klanglich-Sinnlich-Akustisch-Musikalisches anzubieten. Man soll das Gefühl haben, daß sich auch gesprochene Sprache sehr musikalisch in einen Ablauf einpassen kann."

Wie gut das geht, zeigt Kunzes drittes "anderes" Album Wasser bis zum Hals steht mir, das ein auf den ersten Blick irres Gemisch von musikalischen Glanzleistungen und lyrischen Ausbrüchen, von surrealen Soundlandschaften und nachdenklichen Reflektionen ist. Allerdings ist es nicht das erste Mal, daß sich Heinz Rudolf Kunze, der ja als alter Hase in Sachen Hakenschlagen bekannt und berüchtigt ist, auf das Experiment einläßt, sein sicheres Gefühl für Popmusik um eine poetische Dimension zu erweitern. Bereits 1991 legte er sein musikalisch-literarisches Programm Sternzeichen Sündenbock erfolgreich auf einem Tonträger nieder, 1994 folgte der Live-Mitschnitt seines Programms Der Golem aus Lemgo.

Das Pferd von hinten aufgezäumt

Trotz dieser Tradition ist Wasser bis zum Hals steht mir ein anderes "anderes" Album, denn wo beim Sündenbock und beim Golem das jeweilige Live-Programm auf CD konserviert wurde, ist es nun genau anders herum: Erst entsteht das Album – dann folgt die Tour. "Wir haben hier bei der Arbeit im Studio die Möglichkeit, fast jede Art von musikalischer Welt aufzurufen und sie dann auf die Bühne zu bringen. So wird das musikalische Erlebnis bei der im Frühjahr 2002 anstehenden Tour für das Publikum noch größer sein. Das hat mir beim Sündenbock und beim Golem, die ja als Live-Programme konzipiert waren, immer gefehlt."

Wir lagen vor Madagaskar

Es ist November im Hannoveraner Umland. Ein wunderschönes, strohgedecktes ehemaliges Bauernanwesen in der Wedemark beherbergt das durchaus sehr gemütliche Madagaskar Studio. Eine idyllische Location, doch niemand hat hier wirklich Augen dafür: Erschöpft aber sichtlich zufrieden sitzt Heinz Rudolf Kunze im Chefsessel hinter dem Mischpult und hört kritisch die Rohmixe der ersten fast fertigen Songs. Ein dunkles Wabern dröhnt aus den Abhör-Boxen, man meint, eine verschollene Jam-Session von Can und den Einstürzenden Neubauten zu hören, doch das Stimmengewirr, das aus einem kopf stehenden Paralleluniversum zu uns herüberzudringen scheint, stammt von Heinz Rudolf Kunze – eindeutig ist der typische Biß des Pop-Poeten zu erkennen, eindeutig die subtil versteckte Freude am Absurden, am Überraschungsmoment. Nicht einmal zwei Minuten später schallt ein tiefsitzender Dub-Reggae zu uns herüber, die Stimme überlagert sich mit ihren eigenen Echos und purzelt rhythmisch aus den Speakern. Dann drückt ein groovig-griffiger Funk auf die Magengegend und zwingt die Zuhörer, die Stuhllehnen mit den Handflächen im Groove zu bearbeiten. Heinz Rudolf Kunze hört genau hin, aber in seinem Gesicht bildet sich das verschmitzte Grinsen, das immer eine Warnung ist: 'jetzt kommt wieder eine Überraschung.' Heinz Rudolf Kunze hat Spaß und gute Laune, bewegt sich vollkommen in seinem Element.

"Es würde mir nicht reichen, Texte zu lesen und dann irgendwelche Spielchen mit Echos zu machen," erklärt er seine diebische Freude am Wechselbad der Musikstile. "Entscheidend sind für mich die musikalischen Texturen, in die die Texte eingewoben sind."

Die musikalische Reise

"Ich war immer ein großer Fan von Ambient-Musik und von verrückten Klängen, die beim Hören Geduld brauchen. Besonders schön ist es, wenn man das mit einigermaßen sinnvollen Worten verbinden kann, und das erlebe ich gerade." Da mögen die Texte selbst noch so schneidend und scharf sein, sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in Szene zu setzen, ist für Kunze sichtlich ein sinnliches Vergnügen.

Sein musikalisches Repertoire ist gigantisch, nicht weil er sich unter anderem als Musikjournalist betätigt, nicht weil er über eine Sammlung von über 40.000 Tonträgern verfügt, sondern weil er 40 Jahre Popgeschichte mit vollem Herzen verinnerlicht hat, und weil er nicht nur ein deutscher Popstar, sondern vor allem ein Musikfan ist. Dementsprechend gibt es auf Wasser bis zum Hals steht mir Einflüsse in Hülle und Fülle zu finden: Argumental erzählt von seiner Liebe zu Lee Scratch Perry und Prince Far-I, Das Ding evoziert James Brown, So Lala macht aus Kunzes Bewunderung für Blixa Bargeld und die Neubauten keinen Hehl. Das Instrumental-Intro Eichenlaub ist stilistisch glatt von der Düsseldorfer Schule um Neu und Michael Rother geborgt, und das ganze Album wird durchzogen von der Ehrerbietung an den hierzulande wenig bekannten Wire-Ableger Dome, in den frühen Achtzigern von Bruce Gilbert und Graham Lewis ins Leben gerufen. Und mit Nichts ist so erbärmlich wie die Jugend von heute nimmt er sich schließlich genießerisch modernen HipHop zur Brust. Ein Album so bunt wie ein Gabentisch zu Weihnachten. Heiner Lürig, Kunzes langjähriger Produzent: "Auf Wasser bis zum Hals steht mir kommt Heinz Rudolf Kunzes unendliche Vielseitigkeit zum Tragen, und das ist ja gerade das, was Kunze ausmacht."

Worte

"Es gibt gewisse Besonderheiten der Mitteilung, die man selbst in einem perfekt geformten Popsong nicht unterbringen kann, Dinge, die etwas genauer sind. Ich weiß, daß mein Publikum das weiß, weil ich bei Konzerten ja auch mal was erzähle, und es gibt viele, die gern mehr davon hätten. Wasser bis zum Hals steht mir ist für mich die Erfüllung eines Traums: Ich habe völlige Freiheit in dem was ich tue und kann mich jenseits von Sparten bewegen. Ich genieße es, nicht einfach eine Songidee zu verwirklichen, sondern mit einem Text zu beginnen und mich auf das einzulassen, was sich daraus klanglich ergibt."

Kunzes Texte sind nicht leicht verdaulich, das weiß er und das wissen seine Fans. Man muß sich von ihnen mitreißen lassen, kann auf den Wortspielen, den Wortverdrehungen und Bedeutungsclustern surfen wie auf einer Südsee-Welle. Kunzes Texte entstehen in einem Fluß der Gedanken. Sie beginnen auf sicherem Boden und entwickeln eine Eigendynamik, die Texter und Hörer gleichermaßen mitreißt. "Das ist manchmal wie Free Jazz. Der Verlauf der Worte und Sätze entwickelt sich wie eine Improvisation: Ich fange mit einem Wortmotiv an und lasse mich dann treiben." Und in der Tat besitzen Kunze-Texte eine Art inneren Groove, einen Zusammenhang, der sie klanghaft und rhythmisch werden läßt. Dabei öffnet die entstehende Mehrfachbedeutung der einzelnen Worte den Deutungszusammenhang und schafft Freiräume für weite Assoziationsebenen. Das ist ein Prozeß, der nicht ganz unähnlich der Arbeitsweise zweier großer deutscher Kabarettisten ist, die Kunze sehr bewundert, nämlich Hanns Dieter Hüsch und Wolfgang Neuss.

Sprachbaustellen

Wasser bis zum Hals steht mir sprengt Hörgewohnheiten. Collage und Montage, wie sie zum Beispiel deutlich bei Stücken wie So Lala, den historischen Zitaten von Hallo Deutschland und Myopie Verwendung finden, gehören zu den Steckenpferden Kunzes und ermöglichen ihm, sich dem, was er sagen will, zumindest anzunähern – ein Dichten und Forschen zugleich: "Durch die Montagetechnik, die Arbeit am Wort, kann ich etwas entdecken, was in der üblichen Sprache nicht gesagt werden kann. Die Alltagssprache reicht oft nicht, um das abzubilden, was wir manchmal genauer empfinden. Da versuche ich hinzukommen. Aber vielleicht ist das mit Sprache gar nicht möglich. Ich gehe natürlich das Risiko ein, daß mich mancher nicht versteht. Ich gehe es nicht gern ein, aber ich tue es."

Um so treffender stellen sich die klanglichen Muster des Albums dar, denn sie gehen mit den bloßen Worten eine Verbindung ein, die sie letztlich auch auf einer emotionalen Ebene wirken läßt. So wirkt Wasser bis zum Hals steht mir wie ein Patchwork aus musikalischen und textlichen Grooves, die einander tragen und nicht zuletzt mit erweiterten Bedeutungen füllen. "Wenn man auf diese Art arbeitet," bestätigt Heinz Rudolf Kunze, "dann komponiert man eigentlich nicht, man malt. Man legt Schicht auf Schicht, bis das Endergebnis vollständig ist." Myopie ist zum Beispiel so ein Fall, in dem zwei Texte parallel einander gegenübergestellt werden. "Man soll den Eindruck bekommen, man säße in einem Café und rundherum unterhalten sich anscheinend wichtige Menschen. Und wenn man hinhört, ist es nur Geschwätz."

Alte Filme klingt wie mit einem Originalsoundtrack aus den Fünfzigern unterlegt, Der endgültige Ozean findet vor der wabernden Kulisse endlos weiter Klangräume statt, und das Rückzugsgedicht Auszeiten verbindet zarte Harmonien mit düsteren Hintergrundgeräuschen.

Inhalte

Die Texte sprechen für sich selbst, aber es sind immer noch die großen Kunze-Themenkreise, die ihn von je her beschäftigen. Da ist das Thema Deutschland und sein historischer Zustand – nicht umsonst hört man in Hallo Deutschland die Originalstimmen von Erich Honecker, Wilhelm Pieck, Willy Brandt und anderen. Die historischen Eckdaten Deutschlands werden zu einer Telefonnummer, unter der leider niemand antwortet. Da gibt es in Nichts ist so erbärmlich wie die Jugend von heute die große Provokation und die Hoffnung auf Widerspruch zum eigenen Statement, daß die "Jugend von Heut"“ in Lethargie und Ideenlosigkeit verfallen ist. Der Widerspruch wird geleistet von der HipHop-Formation le 'zon (G-Ray, Soy, J.P., Kem).

Die chinesische Wasserfolter ist eine apokalyptische Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart, in Szene gesetzt mit dramatischen Akkordläufen und bedrohlich unidentifizierbaren Sound Objekten. Der Angriff auf die Medien- und Promiwelt ist dabei durchaus zweischneidig zu sehen: Schließlich gehört auch ein Heinz Rudolf Kunze zu jenen, die im Rampenlicht stehen. "Ich würde mich da auch nicht ausnehmen," lacht er. "denn ich bin natürlich Teil dessen, was ich da beschreibe." Kunze geht durch Minenfelder, denn natürlich könnte man fast jedes seiner Statements gegen ihn verwenden. Allerdings kam die Selbstironie und das Bewußtsein um die eigene Angreifbarkeit nie so erfrischend und humorig rüber wie bei Wasser bis zum Hals steht mir.

Das Album

Wasser bis zum Hals steht mir wurde komplett von Heinz Rudolf Kunze, Heiner Lürig und Matthias Ulmer eingespielt und produziert. Die Texte sind neu oder stammen aus Kunzes sechstem Textband Klärwerk (Berlin: Ch. Links-Verlag 2001).

Der "andere" Kunze?

Eine Frage bleibt noch offen: Ist man, wenn man wie Kunze Rocker, Poet, Songtexter, Musikjournalist und erfolgreicher Musical-Übersetzer ist, noch eine geschlossene Person?

"Ich finde es sehr irritierend, daß viele Menschen glauben, das würde alles getrennt voneinander laufen. Warum sollte das nicht alles zusammen gehen? Kunze ist eine Gesamtperson, alles gehört zueinander."

Tom Beege, WEA, November 2001

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