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1999

Mit Kunze unter die Oberfläche gehen

Open-Air-Konzert mit Heinz Rudolf Kunze auf dem Schloßhof in Salzgitter-Salder

Auf Korrektour war er und warf gleich zwei Variable ins Spiel: Kopfbedeckungen und Instrumente. In ersterer Kategorie wechselt Heinz Rudolf Kunze zwischen Cowboyhut, seiner obligatorischen Melone und Campermütze; in letzterer ist er auf dem Sprung zwischen Gitarre und Piano, zückt dann aber doch im letzten Moment seine Mundharmonika, schließt die Augen und spielt.

Das Schloß in Salzgitter-Salder versprach ein Ambiente der besonderen Art. Ein Baugerüst an der kompletten Frontfassade sorgte leider für eine optische Abwertung. Akustisch blieb der Abend für die 1300 Besucher rein technisch gesehen nicht zu beanstanden. Das sauber ausbalancierte Klangbild lieferte den Beweis, dass Kunzes Konzert von einem Anschlag der Mischpult-Mafia und dem damit verbundenen Soundbrei verschont blieb. Kunze selbst, der Musiker, Dichter, Musicalübersetzer und Sozialkritiker, ist nicht nur in Hinsicht auf Hut und Instrument mehrdimensional. Auch in einer Live-Situation mit dem Medium Rockmusik läßt er dies deutlich werden. Kunze verpackt seine Texte zwar in Mitklatsch-Folie, achtet aber penibel darauf, dass innen der Geschmack erhalten bleibt, und damit der textliche Gehalt. Scheinbar spielend leicht gießt er aktuelle Befindlichkeiten in Mitsingpotentiale, streut sie unters Publikum, läßt dennoch nie die Moralkeule wie ein Damoklesschwert über dem Auditorium kreisen. Der Doppelpaß zwischen ruhig-melancholischen Tönen und der Rock-Breitseite gelingt Kunze aber nicht immer perfekt. Da steht er dann mit der elektrischen Gitarre in der untergehenden Abendsonne, streckt ihren Hals gen Himmel und zwirbelt den ein oder anderen Power-chord durch die Magnetspulen mit einer Rockstar-Pose, die er eigentlich nicht nötig hätte.

Stark ist er am Piano: Die ersten Takte von Dein ist mein ganzes Herz entschädigen. Der Mund ist sein wichtigstes Werkzeug: Er wettert gegen ritualisierte Selbstbeweihräucherung und widmet konsequenterweise der "um ihr Überleben kämpfenden" Fußballnationalmannschaft spontan Der Kaiser soll mir sagen, wer ich bin. Nur weiß der es mittlerweile wohl auch nicht mehr.

Als "geborener Pessimist" setzt sich Brillenträger Kunze auch die politischen Doppelgläser nach wie vor unverdrossen auf. Die Kosovo-Situation reflektiert er am eindringlichsten in Aller Herren Länder. Kunze greift zur akustischen Gitarre, zupft hier und da ein paar Arpeggien und appelliert eindringlich an Toleranz und Solidarität. Und dann, wie aus dem Nichts, schließt HRK einen neuen musikalischen Generationenvertrag ab, adressiert seine Botschaft an alle Altersgruppen: Scott McKenzies Hippie-Hymne "San Francisco", das selbstreflektive "Losing my religion" von R.E.M. und Nirvanas Grunge-Rock-Grundstein "Smells like teen spirit" als fragmentarische Zitate. Kunze verabschiedet sich von der einfachen "live"-haftigen Reproduktion seines Stückes und geht als Künstler tiefer, dringt in die Substanz unter der reinen, vermeintlich poppigen Oberfläche. Das Publikum, anfangs merklich reserviert, honoriert dies und singt ihn mit Wenn Du nicht wiederkommst dreimal auf die Bühne zurück.

Stefan Henkel, Braunschweiger Zeitung, 2. August 1999

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