Professor Pop
Dieser Tage beginnt "Die nach oben offene Tour" von Heinz Rudolf Kunze. "Brille" – wie er sich auch selbst nennt – stellt auf dieser Tournee sein 17. Album Richter-Skala vor. Zwei Tage vor dem Auftakt-Konzert steckte Kunze im kleinen Harz-Städtchen Osterode mitten in letzten Reisevorbereitungen und Proben.
Trotz steigenden Reisefiebers fand der Pop-Professor Zeit für ein Gespräch mit dem TIP.
TIP: Im Vorfeld dieser Tour hast du zunächst einmal eine "Deutschstunde" in einigen Schulen abgehalten. Steckte dahinter mehr als nur ein Testlauf für deine neue Band?
Kunze: Es war einfach ein Versuch, etwas Originelleres zu machen als die meisten anderen Kollegen, die in Clubs gehen, um sich da für ihre Tournee aufzuwärmen. Und die Schüler waren unheimlich dankbar – natürlich hat man sie auf seiner Seite, wenn man in der Schule spielt, denn man erlöst sie schließlich vom Unterricht.
TIP: Wie lief das ab?
Kunze: Wir haben eine Schulstunde lang gespielt und danach gab's Gespräche.
TIP: Und wie verliefen die?
Kunze: Nett, sehr unkompliziert und ungehemmt. Natürlich können mich nur die Schüler in der Oberstufe überhaupt einordnen, die kleineren haben wahrscheinlich eher ein Take-That-Problem. Aber nun gibt's Take That nicht mehr und da muß sich ja einer für die Lücke anbieten.
TIP: Kam dir bei dieser Gelegenheit dein abgeschlossenes Pädagogik-Studium zu gute oder hat Pädagogik nichts mit Pop zu tun?
Kunze: Nein. Das sind geradezu Antipoden. Popmusik ist das radikale subjektive Erzählen von sich selbst, von Süchten, Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten, Phobien. Und Pädagogik ist der Versuch Menschen etwas aufzuzwingen, egal wie libertär sich Pädagogik auch gibt. Es gibt da Lernziele, die sollen erreicht werden und Popmusik ist das genaue Gegenteil davon. Das ungehemmte, unreglementierte und unzensierte Ausbrechen von Gefühlen und Visionen.
TIP: Hast du dann zumindest Marktforschung betreiben können?
Kunze: Ich glaube nicht, daß ich jemals wirklich bewußt auf jemanden zugeschrieben habe. Ich habe, wenn ich schreibe, eigentlich nur mich selber im Auge und auch kein Hörer-Pinup an der Wand. Ich hab' auch nie Lust gehabt, Stichwortgeber einer bestimten Klientel zu sein.
TIP: Aber du versuchst gleichzeitig als Musikjournalist deine Vorlieben zu propagieren. Verträgt sich das?
Kunze: Da sehe ich kein Problem. Ich tanze gerne auf verschiedenen Hochzeiten, die mit Musik und Text zu tun haben und höre seit meinem 14. Lebensjahr extensiv Musik und spreche mit Freunden darüber. Warum soll ich das nicht auch öffentlich tun?
TIP: Deshalb wohl auch deine Idee zum "Musikalischen Quintett"?
Kunze: Das war überfällig. Die Wirkung des "Literarischen Quartetts" im Fernsehen ist enorm, und da habe ich mir schon vor längerer Zeit gedacht, daß sowas existieren müßte für Leute, die etwas anderes noch vielmehr interessiert als Bücher. Mit VH-1 hat sich dann ein Fernsehsender gefunden, der sich von der Idee überzeugen ließ.
TIP: Würdest du da auch deine eigene Platte besprechen?
Kunze: Wenn man mich währenddessen fesseln und knebeln würde, dann würde es gehen. Man kann zur eigenen Musik nicht mitsprechen, aber natürlich wird man dann seine Platte rechtfertigen oder verteidigen und das ist natürlich doof.
TIP: Ist die stilistische Offenheit deiner neuen Platte eher dem Musiker oder dem Journalisten Kunze zuzuschreiben, der andere Musiker beobachtet?
Kunze: Das kann man nicht trennen. Ich höre eben sehr viel. Es gibt Kollegen, die behaupten, daß sie kaum etwas anderes hören, weil sie das verunsichern würde. So könnte ich nicht leben. Ich brauche Musik, ich will wissen, was los ist. Das infiltriert mich natürlich und kommt dann in Form von Anspielungen und Zitaten wieder raus.
TIP: Dabei fällt es schwer, einen spezifischen Stil auszumachen.
Kunze: Ich habe mit vielen Stilrichtungen geflirtet und viele zu meinen Worten ausprobiert. Das kommt wahrscheinlich daher, weil ich mit den Worten anfange. Da fühlt man sich schon gekitzelt, sie ganz verschieden zu illustrieren. Würde ich mit der Musik anfangen, wäre schon soviel Grundstimmung definiert, daß ich bei den Texten nicht mehr frei wäre.
TIP: So nimmst du dir die Freiheit und singst in Ekelhaft unter anderem vom "Blindekuh beim Ficken" – ist das wirklich dein eigener Wortschatz?
Kunze: Der Typ, der da spricht, der ist so echauffiert, daß er keine Abstriche in Sachen Höflchkeit mehr macht. Ich habe eine Zeitlang darüber nachgedacht, das auch von einem Frauenchor singen zu lassen, damit in jedem Fall klar wird, daß die Aussage in beide Richtungen funktioniert. Ich hab ja auch nie irgendwelche Macho-Vorwürfe bekommen. Im Gegenteil, mir haben oft Frauen gesagt, daß ich für sie so eine Art Woody-Allen-Figur sei.
TIP: Kompliment oder Beleidigung?
Kunze: Ich hab mal gelesen, Woody Allen ist der Traummann der amerikanischen Frauen, weit vor Rober Redford. Na bitte.
TIP: Woody Allen macht neben seinen Filmen Musik, du machst neben der Musik auch Prosa, Lyrik, Kleinkunst, Musicalübersetzungen. Ist Musikmachen allein zu wenig?
Kunze: Ich habe halt viele Texte, die um die Lieder herum entstehen und sich zu Musik nicht bringen lassen und ich fände es schade, wenn das unter den Tisch fiele. Mit den Musicalübersetzungen ist das was anderes, das ist fast schon mein zweiter Hauptberuf. Ich hab' aus Neugier mit Les Miserables angefangen und der Erfolg zieht dann weitere Dinge nach sich. Vielleicht ist das meine Art zu kompensieren, daß ich selber keine englischsprachige Musik mache, obwohl da meine Vorbilder liegen. So bin ich zumindest als Übersetzer mit dem Englischen befaßt.
TIP: Du beschäftigst dich sehr intensiv mit aktueller Musik, erinnerst mit der eigenen aber eher an die Deutschen Siebziger.
Kunze: Nicht nur an die deutschsprachige Musik der Siebziger, überhaupt an die Siebziger Jahre. Das ist ja heutzutage ein Vixierbild geworden. Was kannst du denn da noch klar voneinander unterscheiden? Velvet Underground gab es eigentlich von 1967 bis 70, und es gibt heute viele Bands, die sowas wieder machen, wo man das Gefühl hat: ist das nun altmodisch oder ist es neu? Man kann es gar nicht unterscheiden. Ich höre bei mir auch die Velvets, Neil Young oder King Crimson raus und finde das ok.
TIP: Fällt dir das dann erst anschließend auf, oder denkst du da schon während des Komponierens an deine Vorbilder?
Kunze: Ich hoffe, während des Komponierens nicht zu denken. Es sind nie absichtliche Anleihen. Aber Anspielungen unwillkürlicher Art gibt's jede Menge. Das ist das Ehrlichste, was man machen kann. Es gibt keine neue Rockmusik mehr. Leute wie die Beastie Boys oder Tricky sind, indem sie ganze Bausteine aus bestehenden Songs verwenden, ja noch radikaler im Klauen als wir, die handgemachte Anspielungen verwenden.
TIP: Es gibt zeitgemäße Bands wie Die Sterne, die du ganz offen lobst. Kommt da Zuneigung oder Anerkennung zurück?
Kunze: Denen ist schon bewußt, daß Interesse besteht, aber ob sie die Zuneigung erwidern, weiß ich nicht. Als wir vor anderthalb Jahren aufeinandertrafen, waren sie sehr defensiv und sehr schüchtern. Ob sich mich jetzt als einen arrivierten alten Sack betrachten oder nicht, ist für mich aber sekundär. Ich finde sie trotzdem gut.
TIP: Welche Rolle spielt für dich als Pop-Musiker das Alter?
Kunze: Ich war vorgestern bei Lou Reed. Der ist jetzt 53, ich werde dieses Jahr 40 – also hab ich noch ein bißchen Luft.
TIP: Siehst du deine Vergangenheit ebenso rosig wie die Zukunft?
Kunze: Ich hatte ja nicht bei null angefangen, wie viele andere, sondern schon hunderte von Liedern geschrieben, ehe ich 1980 überhaupt an die Öffentlichkeit ging. Ich dachte aber, das interessiert kein Schwein, was ich da mache. Sodaß ich öffentlich eigentlich von null auf hundert kam. Ich kriegte einen Plattenvertrag und habe dann öffentlich gelernt wie das ist, dieser Beruf Musiker.
TIP: Da kann auch manches schief gehen ...
Kunze: Lernen hat immer damit zu tun, daß man sich an einer heißen Herdplatte die Finger verbrennt, aber im Großen und Ganzen muß ich keine Platten bereuen. Es gibt da nichts, was mich geniert. Als Lebensweg und Stationen ist das o.k., das hat schon einen roten Faden.
TIP: Was mich zu deinem Mitwirken beim SPD-Parteilied Das weiche Wasser bricht den Stein bringt ...
Kunze: Ich wurde 1988 damit geködert, daß ich auf einer Maxi mit Willy Brandt wäre. Das war der einzige Grund.
TIP: Du bekommst trotzdem immer wieder das Sozi-Etikett verpaßt.
Kunze: Ich habe seit dem Abservieren von Björn Engholm nichts mehr für die SPD gemacht und mich wütend zurückgezogen von allen öffentlichen Bekundungen als Musiker. Das hat mich so angewidert, daß ich keinerlei politische Veranstaltungen mehr gemacht habe.
TIP: Wie schlägt sich das in deinen Texten nieder?
Kunze: Ich zeige in meinen Texten schon eine gewisse Ratlosigkeit. Die neueren Sachen haben immer mehr den Charakter eines überforderten Menschen, der sich zwischen den Programmen durchzappt und von Katastrophe zu Katastrophe eilt. Es werden immer mehr stenoartige Bilder bei mir, aber das ist der Stand der Welt. Ich sehe keinen um mich herum, dem ich derzeit irgendwelche Patentrezepte abnehmen würde.
TIP: Immerhin hast Du selbst einen enormen Zulauf im Osten.
Kunze: Meine Familie kommt ursprünglich aus Guben an der Oder. Das wurde auch publiziert und insofern haben mich die Bürger im Osten als halben Ossi akzeptiert – das war schon zu DDR-Zeiten so – dann kann ich da rausgehen wie bei einem totalen Heimspiel. Das ist in München immer noch nicht so. Da gucken die mich manchmal so fragend an, daß ich das Konzert am liebsten unterbrechen will, um den Text zu erklären.
TIP: Ostdeutsche haben eben ihre Erfahrung mit bildhafter Sprache.
Kunze: Natürlich, die ostdeutschen Hörer sind darauf geeicht, zu dechiffrieren. Das mußten sie ja. Ich habe immer gesagt, die Ost-West-Grenze in Deutschland ist eine künstliche politische gewesen. Die Mentalitätsgrenze in Deutschland verläuft von Nord nach Süd. Und da zähl' ich den Osten noch zum Norden.
TIP: Da kannst du ja von Glück sagen, daß du es schaffst, in den gesamtdeutschen Charts gut drin zu sein.
Kunze: Zur Zeit bin ich eher schlecht in den Charts, also nicht so hoch wie üblich.
TIP: Weshalb?
Kunze: Weil die Single Halt's Maul den meisten Rundfunksendern zu frech war und boykottiert wurde.
TIP: Frech? Immerhin steht doch auch ein Song wie "Ich find Dich Scheisse" ganz weit vorne.
Kunze: Da geht es eben nur um das gegenseitige Pickelausdrücken von Vierzehnjährigen, das stört natürlich nicht. Bei Halt's Maul werden schon ein paar Sachen gesagt, die es zu einem leicht politisch angehauchten Song machen. Und die Leute bei den Sendern sind halt der Meinung, Kunze sollte selber lieber sein Maul halten und besser wieder Liebeslieder schreiben.
Hagen Liebing, TIP, 9/1996
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