Artikelfoto (Foto von Jens Meyer)

1996

"Ich denke, ich gelte deshalb als so schlau, wie die meisten Musiker in Deutschland einfach zu dumpfbackig sind."

Nachsitzen beim Konrektor

Frisches Blut tut immer gut. Auch HEINZ RUDOLF KUNZE. Der 39jährige nahm sein 16. Album mit einer brandneuen Band auf und pendelt auf Richter-Skala zwischen rohem Rock und poetischen Balladen. Dem WOM Journal bestätigte der zielstrebige Liedermacher, daß er nicht zu Unrecht als Konrektor des deutschen Rock gilt.

Über seine Songs

"Ich stelle jedesmal wieder fest, daß die Songs ein Eigenleben entwicklen. Die Vielfalt des Albums hängt damit zusammen, daß ich immer zuerst die Texte schreibe. Die unterschiedlichen literarischen Ideen und Herangehensweisen erzwingen sozusagen eine Reise durch die Rocklandschaft. Leute, die meine Texte wie das Evangelium auffassen, muß man in die Schranken weisen. Ich will nur etwas interessantes erzählen. Das ist kein Lerninhalt, sondern ein offenes Angebot. In Deutschland wird immer noch jeder denunziert, der etwas weiß und ein paar Bücher gelesen hat. Bei David Bowie gilt das als smart, bei mir führt es dazu, daß ich den gelben Stern des Intellektuellen angeheftet bekomme."

Richter-Skala Song by Song

Autos in den Bäumen

Das ist der Versuch, in Sprache umzusetzen, was man erlebt, wenn man im Fernsehen schnell von einer Nachrichtensendung zur anderen schaltet. Ich fühle mich dabei wie ein antiker Poet, der alles durcheinanderkriegt und am Ende vor Verwirrung nicht mehr weiß, was schwarz und weiß, gut und schlecht ist. Mein einfaches studentisches Weltbild von damals läßt sich in der heutigen Welt nicht mehr anwenden.

Bleib hier

Der Typ in dem Song gibt zu, daß er ziemlich schwer auszuhalten ist. Das zentrale Bild ist ein "Schweißhund mit Verfolgungswahn", also eine extrem gequälte Kreatur. Manche Sachen kann man nur poetisch ausdrücken, und ich wäre sehr enttäuscht, wenn die Leute diese Metapher nicht verstehen. Sprachliche Bilder sind das Ergebnis meines Spieltriebs. Ich schreibe solche Begriffe in die Mitte eines leeren Blattes, anschließend bastele ich den Text drumherum.

Ich steh dir bei

Ein Sonderfall. Das ist die erste Auftragsarbeit, die ich je übernommen habe. Es handelt sich hierbei um die Titelmelodie zur Fernsehserie "Max Wolkenstein", die seit Mai in Sat1 ausgestrahlt wird – eine Art "Liebling Kreuzberg" für Jugendliche. Ich wollte immer schon gerne mal einen Soundtrack machen. Die Nummer ging sehr schnell zu schreiben, uptempo, direkt und nicht allzu kompliziert.

Bis zum zwölften Niemalstag

An diesem Liebeslied mag ich sehr, daß es sich nicht auf eine eindimensionale Beschreibung à la "Ich finde dich klasse" beschränkt. Ich habe absurde und komödiantische Elemente reingebracht, die eigentlich in einem Liebeslied nichts zu suchen haben. Und dazu eine melancholische Melodie. Eigentlich lauter auseinanderstrebende Elemente, aber ich finde, es paßt alles zusammen.

Brigitte

Wer ist Brigitte? Das möchtest du wohl gerne wissen, was? Das Wortspiel mit dem "Reich der Mitte" hat mich in Gang gesetzt. Brigitte ist eine meiner Frauen, die ich kenne, und meiner Phantasie. Mich hat gereizt, daß sich der Typ nicht mit seiner Angebeteten unterhält, sondern den Mond anheult. Ein feuchter Song! Solche Lieder hören die Frauen im Konzert übrigens extrem gerne.

Möchtegern-Opfer

Man redet immer gerne über Katastrophen, möchte aber selbst nichts damit zu tun haben. Deshalb ein Schmählied auf unsere Betroffenheitskultur und auf das Talkshow-Unwesen. Das Paradoxe daran ist, daß ich selbst ab und zu in solchen Sendungen auftrete, denn ich muß der Öffentlichkeit ja irgendwie zeigen, daß es mich gibt und daß ich etwas zu verkaufen habe.

Manchmal

Das ist einer von den Texten, die man nicht in einem Satz zusammenfassen kann. Es geht um Skrupel und die Erkenntnis, daß man zum Verräter taugt. Verpackt in ein Stimmungsbild, das nicht eins zu eins in rationale Sprache übertragbar ist.

König mit leeren Händen

Ein Liebeslied von einem, der schon die eine oder andere Blessur eingesteckt hat. Meine Lieblingszeile heißt "Meyn Geduld hat Ursach"; sie stammt aus Ernst Jüngers Buch "Auf den Marmorklippen". Ein unheimlich starker Satz nach dem Motto "Bleib locker, du kommst schon zu deinem Ziel". Der Satz steht auch auf der Rückseite der CD.

Halt's Maul

Die Beschreibung des häßlichen Deutschen. So etwas wie "Ich find' dich scheiße" für Erwachsene. Als Künstler hat man einen besonders scharfen Blick für die spießigen Charakteristiken des Normalbürgers. Mein Pessimismus mit 39 Jahren sagt mir, wenn die Mehrheit in diesem Land so ist, wie sie ist, dann sollte sie lieber die Klappe halten. Klinge ich jetzt zu elitär und arrogant? Egal, ist halt meine Meinung.

Ekelhaft

Ein Polaroid von einer Beziehungskrise. Ein Rollenmodell-Song, in dem alles gesagt wird, was man echt mal loswerden möchte. Ein ungerechter, harscher und mieser Text, aber man ist im Leben nicht immer ausgewogen und gelassen. Wenn so ein Text fertig ist, lacht man kurz erleichtert auf. Aber die idealistische Vorstellung, daß man mit Songs seine eigenen Probleme lösen kann, ist leider ein Trugschluß.

Richter-Skala

Ein kurzer, schlichter Text, der viel Raum für die Musik läßt. Letzten Endes auch ein Beziehungsdrama. Der Partner sorgt für die größtmögliche Indiskretion, indem er/sie die Nummern im Kurzspeicher des Faxgeräts ausgetauscht hat.

Vergessen

In unserer Informationsgesellschaft fallen viele Dinge sehr schnell unter den Tisch. Beispiele dafür erzähle ich teilnahmslos runter, verzichte auf die Kommentierung. Das machen zu viele. Ich setze hier einfach voraus, daß die Leute den Text richtig verstehen, so wie er ist. Das Lied ist ein Mahnmal gegen das Vergessen.

Seekranke Matrosen

Es geht wieder um Männer und Frauen und wie sie miteinander nicht zurechtkommen. Bei einigen wirklich schwer deutbaren Zeilen wußte ich selbst nicht, was ich damit eigentlich aussagen wollte. Ein mystischer, sehnsüchtiger Song über das Kommen und Gehen, verpackt in eine Peepshow-Atmosphäre.

Feuerschutz

Das direkteste Liebeslied der Platte. Ein sehr positives Lied. Ein großes Kompliment an jemanden, der sehr viel Verständnis und Toleranz für mich aufbringt. Manchmal bin ich wirklich wie ein schwieriges Kind. Aber trotzem bin ich jetzt schon unendlich lange nicht geschieden.

Steffen Rüth, WOM Journal, Juni 1996

Copyright & Datenschutz Heinz Rudolf Kunze Top