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Wurde frenetisch bejubelt: Heinz Rudolf Kunze (im Hintergrund: Gitarrist Heiner Lürig) präsentierte seine Show "Macht Musik".
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Ein hemmungsloser, aber hoffnungsvoller Schwarzseher
Heinz Rudolf Kunze und seine Band beim gefeierten Gastspiel im Tempodrom
Es wallet und siedet und brauset und zischt. Der Rock 'n' Roll tobt im Tempodrom. Nicht in pur amerikanischer Machart, wie ihn Chuck Berry, Little Richard oder Jerry Lee Lewis und Konsorten einst in die Tennagerherzen schweißten. Nein, es ist jener mit einer gehörigen Portion Blues getränkte Rock 'n' Roll, der den deutschen Kindern der Adenauer- und Erhard-Generation, den Kindern des bundesdeutschen Wirtschaftswunders, den Alltag erträglich machte.
Es ist jener aufregende Rock, der parallel zu Goethe und Schiller, neben den antiken Griechensagen und den schwerblütigen Daseinsphilosophien, die in die Oberschülerhirne eingemeißelt wurden, heranwuchs. Und keiner versteht dieses Lebensgefühl einer zum Vergnügen entschlossenen und gleichzeitig zum faustischen Studieren verdonnerten Jugend besser auszudrücken als Heinz Rudolf Kunze. Seit Wochen bereits war sein Gastspiel im Tempodrom ausverkauft. Und selten erlebt man in Berlin ein Konzert, das so kompakt, kompetent und konsequent dem Treibstoff für den süßen Vogel Jugend huldigte: dem Rock 'n' Roll in all seinen triebhaften Spielarten.
Mit Was willst Du, diesem trotzigen, frechen Love-Song vom neuen, 14. Album Kunze: Macht Musik, eröffnete der Osnabrücker mit Wahlheimat Hannover sein Berlin-Konzert, das auf wundersame Weise einem Heimspiel gleichkommt. Heinz Rudolf Kunze, der einstige Lehramtskandidat, hat zwar unerhebliche Problem mit einem großen Teil der bundesdeutschen Kritikerschar, die ihm stumpf und stetig den betroffenen Zeigefinger vorwerfen. Seine Fans verstehen ihn aber nur zu gut. Die Stimmung im Tempodrom, sie pegelte von Anfang an im gefährlich roten Bereich der nach oben hin offenen Richterskala.
Kunze schabt an Konventionen, an Tabus, an Unaussprechlichem. Er hat die musikalische Wucht der Rockära aufgesogen wie Lestat, der unersättliche Vampir, um damit seine hintersinnige Rockpoesie zu transportieren. Er ist ein hemmungslos hoffnungsvoller Zyniker, der mit Witz und Ironie die Welt beobachtet, ohne sie erklären zu wollen. Er läßt den deutschen Michel auf der Mine tanzen bei Sex mit Hitler, einem Song, der einzig und allein inspiriert wurde duch eine fiktive Schlagzeile der Blut-, Schreie- und Tränen-Boulevardpresse. Er schreibt Liebeslieder, die so zeitgemäß sind wie Telefonsex und Computer-Orgasmen.
Diese neue Show ist rauh und direkt. Kunze verläßt sich zu Recht voll und ganz auf seine seit Jahren konstante Band mit dem furiosen Gitarrero Heiner Lürig, dem an Gitarre und Pedal-Steel-Guitar gleichermaßen versierten Martin Huch, Bassist Josef "Joshi" Kappl, Keyborder Thomas Bauer und Schlagzeuger Peter Miklis.
Das Bühnenbild ist vom Feinsten. Ein einsamer Eisbär lümmelt sich vor ausgebreitetem Wölkchenhimmel. Nach zwei Stunden Musik pur steht er plötzlich auf und verbeugt sich mit der Band. Die Lichtregie ist sparsam und einfühlsam. Der Sound ist laut und exakt.
Alte Erfolge erklingen im neuen Gewand. Die offene See hat ein verdächtig an "Faith Healer" gemahnendes Gitarrenriff, Lola wird zum Reggae, Mabel bekommt Cajun-Charakter. Aber es sind vor allem die starken neuen Songs, die diese Show bestimmen, wie das wüst psychedelische Goethes Banjo in Pink-Floyd-Manier. Bei Einfacher Mann tobt Kunze gar in Zwangsjacke über die Bühne, stetig von zwei Krankenpflegern gehetzt. Dabei singt die Band ein Intro, das mit Lust "I Feel Free" von Cream zitiert.
Diese Show ist ebenso gigantisch wie der frenetische Jubel, den sie provoziert. Das Publikum tobt, daß die Zeltwände vibrieren und holt Kunze zu mehreren Zugaben auf die Bühne zurück.
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