Cover des Buches "Heimatfront"

1997

"Ein Foto aus dem Hinterland" ist ebenfalls als Sprechtext auf folgender Single erschienen:

Cover der Single "Löwin" Löwin

Ein Foto aus dem Hinterland

für meine Mutter

Niederlengerich, Westdeutschland, 1958. Abgelegene
Gehöfte, ein staubiger Weg, uneben. Die Erde robbt sich
unter einem milchigen Himmel durch, der das Wetter für
sich behält. Provinz, aber nicht eng, sondern weit.
Telegrafenmasten mit Stromleitungen, die sich hinter
dem niedrigen Horizont im Unendlichen schneiden, man
ist versucht zu sagen: im Ural vielleicht.

Weite Provinz. Provinz überall, unter Adenauers Himmel.
Eine junge Arzthelferin kommt mit ihrem Moped vom
Dienst. Ihr kleiner Sohn ist ihr entgegengerannt, er darf
auf dem Sattel sitzen und die Fahrerbrille seiner Mutter
tragen, keß hochgeschoben auf die Stirn, wie Snoopy,
der noch gar nicht erfunden ist. (Die Mutter ist meine Mutter.
Der kleine bin ich.) Ich sehe aus wie mein
Sohn, dreißig Jahre später. Ich habe schon den gleichen
bemüht freundlichen und leicht geistesabwesenden
Gesichtsausdruck, hinter dem ich mich noch heute
verstecke, wenn ich fotografiert werde: öffentlich. Schon
damals war ich Buster Keaton. Ich hatte immer Probleme
mit dem Lächeln, auch wenn mir danach war. Meine
Mutter hatte nie Probleme mit dem Lächeln. Es kam
immer überzeugend. Auch wenn ihr gar nicht danach
war. Gründe gegen das Lächeln hatte sie oft genug,
überreichlich. Ich habe eigentlich weniger Gründe im
Leben gehabt, nicht lächeln zu können. Ich habe viel von
meiner Mutter gelernt. Lächeln nicht.

Mutter trägt einen flaschengrünen Gummimantel. So
etwas ist heute Kultgegenstand für Leute mit
ausgeprägten sexuellen Vorlieben. Ich habe ihn schon zu
Lebzeiten geerbt, er wird in meiner künstlerischen
Laufbahn noch eine große Rolle spielen.
Selbstverständlich wollte ich meine Mutter heiraten.
Mindestens bis ich zirka dreizehn war. Und noch viel
später und bis heute denke ich ab und an: Mein Vater hat
Glück gehabt.

So alt, wie ich jetzt bin, könnte ich diese junge Frau auf
dem Foto über alle Moden und Schönheitsideale hinweg
begehrenswert finden. Meine Mutter. Eine schöne Frau.
Sie hatte mal auf einem anderen Foto, näher am großen
Krieg, einen kleinen Hund auf dem Arm. So einen habe
ich jetzt auch. Einen ähnlichen. Die Geschichte wiederholt
sich nicht. Doch, tut sie. Das ist ja das Problem, das kein
Philosoph wahrhaben will. Denn dann sind sie ja ein
bißchen überflüssig, und man kann gleich die alten lesen.
Meine Mutter hat nie einen Philosophen gelesen. Sie hat
nur das aushalten müssen, was die Leser von diesen
Philosophen in Deutschland und der Welt angerichtet
haben. Ich bin zufrieden, ich habe ein erfülltes Leben,
sagt sie immer. Bis der nächste Migräneanfall sie wieder
zu einem wimmernden, mißhandelten Tier macht.
Zu einem weißglutigen Vulkan, der sich eher die Zunge
abbeißt, als sich den Ausbruch zu gestatten. Der Kopf
umwickelt mit heißen Tüchern, und unter dem Turban
eine Hölle aus Nadelstichen. Dann kann sie auch mich
nicht mehr sehen, selbst wenn sie möchte. Dann tut der
Anblick der ganzen Welt weh.

Das Foto ist schwarzweiß. Nein, ist es nicht. Es gab kein
Schwarzweiß im Deutschland des Kalten Krieges, wenn
man genau hinschaut. Die Fronten waren klar, aber
das war auch alles, was klar war. Es gab eine Vielzahl
von Grautönen, und die waren genauso bedrohlich wie
vielversprechend. Die Blütenweißen waren tot oder
geflohen, zumeist ohne Neigung, wiederzukommen. Nach
Hause? Wohin? Jegliche Heimat war untergegangen,
selbst wenn keine Armee sie zertreten hatte. Das würde
auch für mich, die Barackengeburt, gelten: ein ganzes
Leben lang. Und die Rabenschwarzen waren auch tot
oder geflohen. Wenn sie nicht in Bonn schon wieder in der
Regierung saßen. 1958, das muß man sich mal vorstellen.
Weit im Westen machte Elvis gerade da weiter, wo Marx
und Engels viel zu früh aufgehört hatten. Meine Mutter
würde erst von Elvis erfahren, als ihm die U.S.Army
Germany längst die Eier weichgekocht hatte. Vielleicht
wäre diese junge Frau auf dem Foto ja heute ein Fan von
mir. Trotz meiner Brille und anderer Unterschiede zu
Elvis. Vielleicht würde sie mir nach einem Konzert, wie
schon manche junge Frau, zuhauchen: Du hast mir
geholfen, Männer besser zu verstehen. Wer weiß.
Natürlich ist meine Mutter ein Fan von mir. Aber das ist
etwas anderes. Ich heiße Heinz, wie ihr abgöttisch
geliebter Bruder, den ich nicht kenne. Er ist 1944 in
einem deutschen Bomber verbrannt. Ich bin noch nicht
abgestürzt. Wieso fällt mit in diesem Zusammenhang ein,
daß gerade meine beiden Lieblingslehrer gestorben sind?
Wie dem auch sei (Hurra), wir leben noch. Auch wenn es
manchmal schwerfällt. Auch wenn manchmal dieses
höfliche Unglück in meinen Augen ist wie in den Augen
des Kleinen schon, diese Entsetzensbegabung, die die
Mutter nicht wahrhaben wollte ein Leben lang, gegen die
sie ankämpfte mit dem Sendungsbewußtsein einer sturen
Löwin wie gegen Windmühlenflügel, die mit weit
aufgerissenen Kinderaugen wie mit Sperlingen übersät
sind, rotierende Windmühlenflügel, mit Messern
bestückte klirrende römische Kampfwagenräder,
kreisende Kinderaugenschwärme und ein Zwitschern,
Schnattern, Kreischen in der Luft, dahinter, davor,
drunter und drüber, verzweifelter Funkverkehr,
Angriffsbefehle, Verlustmeldungen, Durchhalteparolen,
und vor allem in ihrem Kopf, und sie zieht ihr Kopftuch
fester und versucht zu lächeln, und manchmal kommen
dieses Kind mit den vielen (tausend) Augen und seine Mutter auch
zur Ruhe, nicht oft, nur unter der Hand, unter vier Augen.
Meine Mutter ist jetzt mindestens siebzig Jahre alt; jeden
Tag, jede Sekunde stimmt das schon nicht mehr. Eine
alte Frau wird sie nie. Gerade sah ich auf einer meiner
vielen Reisen ein Straßenschild: Freie Fahrt, alle
Geschwindigkeitsbegrenzungen aufgehoben. Und darunter
stand eine speckige, abgenutzte Aktentasche, die aussah
wie der ganze jämmerliche Ernst des Lebens. Ich
wünsche dir gute Fahrt, Mutter. Ich will, daß Du heil
ankommst.

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