Singen, bis der Morgen graut
Das richtige Stück in der richtigen Zeit in der richtigen Stadt: Im Theater des Westens laufen die Proben für Les Misérables
Mit dem Musical Les Misérables von Alain Boublil und Jean-Michel Schönberg geht das Theater des Westens Ende September in eine neue Ära unter Leitung der holländischen Stage Holding von Joop van den Ende. Jetzt haben die Proben begonnen.
Der Musicalleben ist eine Baustelle. Während rund 160 Handwerker das Theater des Westens atmosphärisch und vor allem technisch aufpolieren, nähern sich 40 junge Schauspieler und Sänger im gerade fertig gestellten Probensaal des Sehring-Baus einem Musical gewordenen Klassiker: Victor Hugos 1862 erschienenem epischen Roman "Les Misérables" ("Die Elenden").
Der französische Komponist Jean-Michel Schönberg und Textdichter Alain Boublil brachten ihr opulentes Werk im September 1980 im Pariser Palais du Sport zur Uraufführung. Doch erst in der englischsprachig überarbeiteten Version begann im Oktober 1985 im Londoner Palace Theatre der weltweite Siegeszug dieses opernhaft angelegten Dramas vor dem Hintergrund von Restauration und der der Pariser Arbeiteraufstände in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
"Hörst du, wie das Volk erklingt? / Von unsrer Wut erzählt der Wind. / Das ist die Symphonie von Menschen / die nicht länger Sklaven sind" – klangmächtig schallt der vom englischen musikalischen Leiter Nick Davis überwachte Chor beim "Lied des Volkes" durch die frisch verputzte Probebühne. Uwe Kröger, Star einiger der größten deutschen Musical-Produktionen von "Elisabeth" über "Miss Saigon" bis "Mozart!", spielt in Berlin den verbohrten Polizeichef Javert, der sich über Jahrzehnte an die Fersen des geläuterten, ehemaligen Kettensträflings Jean Valjean heftet. Der wird in Berlin von dem gebürtigen Ukrainer Oleh Vynnyk verkörpert, den man zuletzt im Hamburger "Titanic"-Musical erleben konnte. Namhafte Musicaldarsteller und junge Talente formen das Ensemble. Allein acht Mitglieder der Cast sind Absolventen des Studiengangs "Musical/Show" der Berliner Universität der Künste.
"Les Misérables" war das erste Musical, das gemeinsam vom Londoner Theaterunternehmer Cameron Mackintosh und der Royal Shakespeare Company produziert wurde. Erst in London, dann am New Yorker Broadway, 1988 in Wien, später in Duisburg. Nun bringt der englische Regisseur James Powell das Stück nach den Originalvorgaben seines Kollegen Trevor Nunn in Berlin auf die Bühne. "Ich bin eigentlich Schauspieler", sagt er, "und ehrlich gesagt strebte ich immer etwas hochnäsig nach dem Theater, Musical war für mich eher minderwertig. Dann habe ich 1988 die Londoner ,Miserables'-Prouktion gesehen. Und ich war hin und weg. Das war großes Schauspiel, mit einer großartigen und tiefgründigen Geschichte. Das Stück hat mich angezogen wie ein Magnet. Kurz danach bin ich zu einer Audition gegangen und habe selbst für mehrere Jahre in Les Misérables mitgespielt."
Als das Engagement beendet war, bekam Powell 1996 das Angebot, auf den Regiestuhl zu wechseln. "Inzwischen habe ich mit vielen internationalen Ensembles gearbeitet, aber noch nie in Deutschland." Von Berlin hat er allerdings noch nicht viel gesehen: "Die nehmen einen hier im Theater ganz schön ran!" Kein Wunder, es bleiben nur noch knapp sieben Wochen bis zur Premiere. Dass es gerade dieses Musical ist, das die Ära Stage Holding an der Kantstraße einleitet, war sozusagen eine Weisung von höchster Stelle. Theaterliebhaber und Stage-Holding-Chef Joop van den Ende habe das "ganz einfach aus dem Bauch heraus" entschieden, so TdW-Geschäftsführer Thomas Lüdecke. "Er hat gesagt: Das ist das richtige Stück in der richtigen Zeit in der richtigen Stadt."
Auch Rockmusiker Heinz Rudolf Kunze hört sich konzentriert die Probenarbeit an. Er hat Les Misérables für die Wiener Erstaufführung 1988 ins Deutsche übertragen. "Ich bin da rangegangen wie der Tor vom Lande, wie der Provinzler schlechthin, wie der unbeleckte Fremde, der ich war", erzählt er. Vom Frankfurter Konzertveranstalter Marek Lieberberg war die Idee an Kunze herangetragen worden. "Ich hatte von Musicals keine Ahnung. Bis dahin hatte ich gerade mal viereinhalb Minuten Kinks aus dem Englischen übersetzt, das war ,Lola', und jetzt so ein Riesenwerk."
Er begann unter Vorbehalt. Doch nachdem die erste Schwelle überwunden war, ging es Schritt für Schritt. Wobei ihn Auftraggeber Lieberberg letztlich mit einem Trick köderte: "Er hat Esther Ofarim gefragt, ob sie uns die Fantine-Arie mal singt und hat mir das Demo mit der Bemerkung 'Noch Fragen?' zugeschickt. Die hat das so wunderbar gesungen, dass es kein Halten mehr gab."
Längst hat sich Kunze neben seiner Musikertätigkeit auch einen guten Namen als Übersetzer von Musicals wie Miss Saigon oder Rent gemacht, doch dieses erste Mal mit Les Misérables war eine harte Prüfung. "Die Engländer haben mir natürlich misstraut", erinnert er sich. "Die haben das Stück sogar mehrfach von mir rückübersetzen lassen, in verschiedenen Varianten. So etwas Akribisches habe ich in meinem Beruf noch nicht erlebt, dass man wirklich jede Silbe rechtfertigen musste. Immer wieder kam diese aggressive Frage von der englische Seite: Warum ist es nicht genauso wie bei uns? Da musste man sie wirklich hart überzeugen."
Aus mehr als 1000 Sängern und Sängerinnen, die sich bei bundesweiten Castings im Februar beworben haben, wurde das Ensemble geformt. 300 Kinder sangen für die Rolle des Straßenjungen Gavroche vor. Die Ausgewählten stehen, hocken und knien nun auf dem schwarzen Drehbühnenboden, das dicke Libretto in Händen und den Willen zum Erfolg in den leuchtenden Augen. "Alles fängt ganz von neuem an / wenn der Morgen graut", singen sie. Am 26. September ist Premiere.
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