Bayern? Der luxuriöse Sündenbock!
Sportgespräch. Heinz Rudolf Kunze, Musiker und Fußball-Fan, über die deutschen WM-Chancen, das Medaillenzählen, die Angst im Stadion.
Abendblatt: Rockmusiker zerfallen offenbar in verschiedene Kategorien: Die einen nehmen Drogen, andere rennen täglich fünf Kilometer wie Mick Jagger oder treiben Yoga wie Madonna, um auf der Bühne topfit zu sein. Zu welcher Gruppe zählen Sie?
Kunze: Zur Drogenfraktion schon mal gar nicht. Zur Sportfraktion weniger, als mir lieb wäre. Aber ich hatte ein Starthandicap, das mich zu großen Teilen entschuldigt. Als Kind litt ich unter einer schweren Knochenkrankheit, ging sogar zeitweise an Krücken und war für die meisten Übungen untauglich.
Abendblatt: Eine sportfeindliche Einstellung ist daraus nicht erwachsen?
Kunze: Nein, im Gegenteil. Ich beobachte mit Erstaunen, welche Wertigkeit der Sport für die Gesellschaft generell besitzt und finde dieses Phänomen auch in meinem unmittelbaren Umfeld wieder, bei meinen Kindern nämlich. Das ist kein reiner Brot-und-Spiele-Nervenkitzel, sondern etwas, das die Menschen massenhaft aktiv beschäftigt und sie zusammenbringt.
Abendblatt: Wo sehen Sie Schnittpunkte zwischen Kultur und Sport?
Kunze: Zunächst mal fällt mir auf, dass es unter den Zuschauern da und dort sehr ähnliche Verhaltensweisen gibt. Das wird natürlich besonders evident bei Stadionkonzerten berühmter Rockgruppen, was ja auch nicht weiter erstaunlich ist, denn es sind ja keine völlig verschiedenen Gruppen, die dort anzutreffen sind, sondern oftmals dieselben Typen. Die finden eben Fußball gut und AC/DC und das passt ja auch blendend zusammen. Andersrum interessieren sich viele meiner Musikerkollegen brennend für Sport. Trotz dieser Affinitäten halte ich die Experimente, Popgruppen im Rahmen eines Fußballspiels auftreten zu lassen, für weniger gelungen und habe es auch selbst immer abgelehnt, in dieser Atmosphäre zu spielen. Denn die Leute sind nun mal des Sports wegen gekommen und nicht wegen der Musik. Das senkt den Aufmerksamkeitspegel enorm.
Abendblatt: Sehen Sie Sport als Bestandteil der Kultur, oder sind das zwei verschiedene Baustellen?
Kunze: Ersteres. Sport ist ein Ausdruck unseres Lebensgefühls, und nicht ohne Grund wird behauptet, das an der Art, Fußball zu spielen, ablesbar ist, wie eine Gesellschaft funktioniert und wie die Menschen in ihr miteinander umgehen.
Abendblatt: Wie kam es eigentlich zu Ihrer Sympathie für den SV Werder Bremen?
Kunze: Die entstand in der glorreichen Rehhagel-Ära. Was der aus wenig Geld, sprich: ohne den Ankauf von Millionstars, gemacht hat, welche Erfolge der mit anscheinend durchschnittlichen Kickern erzielte, das finde ich noch heute schier unglaublich.
Abendblatt: Wieso schwärmen Sie nicht für Energie Cottbus? Schließlich stammen Sie aus der Niederlausitz.
Kunze: Das stimmt, und wenn ich etwa in Frankfurt an der Oder auftrete, werde ich auch schon mal als Junge, er heimkehrt, tituliert. Das finde ich rührend und tatsächlich schlägt mein Fußballherz auch für Cottbus, zumal ich glaube, dass es für den Vereinigungsprozess von hohem Wert ist, dass Ostclubs in der Fußball-Bundesliga spielen.
Abendblatt: Zur Gesellschaft zählen ja stets Menschen, denen Talent in den Schoß fällt und solche, die sich ihren Erfolg hart erarbeiten müssen. Wen bewundern Sie mehr?
Kunze (lacht): Die Genies natürlich.
Abendblatt: Soll das heißen, das Diego Maradona mehr Respekt abnötigt als beispielsweise Dieter Eilts?
Kunze: Das ist eine hinterhältige Frage. Selbstverständlich weiß ich um das begnadete Fußballgenie Maradonas, aber er war eben ein Feuerwerkskörper, der nur kurz brannte. Was einer wie Eilts über viele Jahre für seinen Verein geleistet hat, ist ganz anders zu bewerten. Das ist ja praktisch eine Lebensleistung. Ich bin dagegen, die beiden miteinander zu vergleichen.
Abendblatt: Freuen Sie sich wie eine tote Hose, wenn Bayern München ein Bundesligaspiel verliert?
Kunze: Nein, so hämisch bin ich nicht. Wenn die Bayern ein gutes Spiel hinlegen, bin ich durchaus imstande, das anzuerkennen ...
Abendblatt: ... und Sie juxen sich keinen, wenn die Millionärstruppe bei den armen Schluckern vom Millerntor vergeigt?
Kunze: Dann tun sie mir fast schon Leid. Nein, man muss die Bayern nehmen, wie sie sind. Sie spielen eine ganz spezielle Rolle in der Dramaturgie des deutschen Fußballs, nämlich die des luxuriösen Sündenbocks. Eine Popgruppe kann man mögen oder nicht. Ein Fußballverein, der am Ende der Saison als erster dasteht, ist der beste, und es ist sinnlos, in diesem Zusammenhang irgendwelche Geschmackskategorien anzuwenden.
Abendblatt: Wir stehen vor elementaren, fußballerrischen Ereignissen – was erwarten Sie von der WM im Juni?
Kunze: Falls Sie eine Prognose von mir hören wollen, frage ich: Wer will Frankreich schlagen? Falls Sei einen Geheimtipp von mir hören wollen, antworte ich: England ist stärker, als die meisten glauben. Deutschland billige ich Chancen zu, ins Viertelfinale vorzustoßen – mehr könnte nur gelingen, wenn verschiedene Wunder gleichzeitig geschähen.
Abendblatt: Könnten Sie sich vorstellen, für die WM 2006 in Deutschland den Titelsong zu komponieren?
Kunze: Eine schwierige Aufgabe, weil da vermutlich sehr viele Leute mitreden und Vorschriften machen wollen, was drin vorkommen soll und was nicht. Man ist da als Künstler wohl mehr ein Dienstleister und macht dann einen Song nach Vorschrift. Das würde mich stark hemmen und wenig begeistern. Ließe man mir hingegen freie Hand, wäre es eine sehr reizvolle Aufgabe.
Abendblatt: Haben Sie Fans oder Freunde unter Profisportlern?
Kunze: Freunde keine, Fans weiß ich nicht. Aber Sie werden lachen, gerade erst las ich, dass Hannovers Trainer Ralf Rangnick auf einer Feier des Vereins Dein ist mein ganzes Herz zum Besten gegeben hat. Der kann meine Musik also nicht schlecht finden.
Abendblatt: Wie gefallen Ihnen Graciano Rocchigiani und die Klitschko-Brüder?
Kunze: Ich weiß nicht viel über die Klitschkos, nur, dass sie sich unterhalten können, gesellschaftsfähig sind und gegen das Klischee des dumpfbackigen Boxers verstoßen. Der andere scheint mir dagegen eher aus der klassischen Abteilung zu stammen.
Abendblatt: Bedauern Sie den Niedergang des deutschen Tennis?
Kunze: Selbstverständlich. Vor allem aber finde ich ihn schwer erklärlich. Denn wir waren doch alle davon ausgegangen, dass die beiden den Ehrgeiz unter Jugendlichen auf breiter Front angefacht hätten und Deutschland bald viele Beckers und Grafs bekommen würden. Aber anscheinend waren die beiden absolute Ausnahmeerscheinungen.
Abendblatt: Haben Sie sich gefreut, dass Deutschland die Nationenwertung bei den Olympischen Winterspielen gewonnen hat?
Kunze: Grundsätzlich unterscheide ich mich bestenfalls in Nuancen von anderen Sportfreunden, das heißt, auch ich sympathisiere bei internationalen Wettkämpfen meist mit meinen Landsleuten. Medaillenwertungen bedeuten mir allerdings wenig, zumal beim Wintersport, dessen Disziplinen mich nicht sonderlich faszinieren – Eishockey mal ausgenommen.
Abendblatt: Sehen Sie die ausufernde Berichterstattung über Sportereignisse speziell im Fernsehen mit Freude oder mit Besorgnis?
Kunze: Ich persönlich find es ganz schön, dass ich an mehreren Abenden pro Woche Fußball gucken kann.
Abendblatt: Die Befürchtung, die Menschen sollten durch Sportübertragungen möglicherweise von anderen Überlegungen abgelenkt werden, teilen Sie nicht?
Kunze: Solange die Leute ein immer noch ausbaubares Bedürfnis nach Zerstreuung haben, wird das nicht zurückgehen. Ich bin mal gespannt, wo wohl der Sättigungspunkt liegt.
Abendblatt: Sie erwähnten anfangs, dass Sie als Jugendlicher krankheitsbedingt keinen Sport ausüben konnten. Wie sieht es heute aus?
Kunze: Ich habe in der Schulzeit ein bisschen den Anschluss verpasst und viele Disziplinen gar nicht ausprobieren können, bei denen ich möglicherweise hängen geblieben wäre. Aber untätig bin ich nicht, war ich nie. Ich habe eine Zeit lang Volleyball und Tennis gespielt. Zurzeit radele ich mit beachtlicher Ausdauer auf meinem Hometrainer. Wenn ich die Zeit habe, zweimal am Tag 40 Minuten.
Abendblatt: Bewundern Sie seitdem Ullrich und Armstrong?
Kunze: Ja, total. Meine Lieblingssportart ist, so könnte man es sagen, Tour de France im Fernsehen gucken und selbst auf dem Hometrainer mitzufahren.
Abendblatt: Wie wäre es mit Schwimmen?
Kunze: Es mag sich für einen Musiker merkwürdig anhören, aber ich halte mich nur ungern unter Menschen auf, die ich nicht kenne, es sei denn, sie stehen vor mir unterhalb der Bühne. Deshalb gehe ich auch nie ins Kino ...
Abendblatt: ... etwa auch nicht zu Fußballspielen?
Kunze: Genau. Ich bin eher der Typus "Couch Potatoe". Nur weil mein Sohn mich ständig bedrängt, war ich denn doch einige Male mit im Weserstadion. Aber wenn die Fans anfangen zu trommeln und zu johlen, macht mir das eher Angst. Ich spüre dann die Gefahr, die eine große Menschenmenge an sich ausstrahlt. Deshalb habe ich ja Mitte der Achtziger mal den Song Packt sie und zerhackt sie gemacht, der sich mit gewaltbereiten Fans beschäftigt. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Wehe, wenn sie losgelassen werden.
Abendblatt: Wie gefallen Ihnen die basisdemokratischen Bestrebungen der Initiative "15.30 Uhr"?
Kunze: Die haben meine volle Sympathie, da sonst Fußballspiele bald keine Halbzeiten mehr haben, sondern alle zehn Minuten von Werbung unterbrochen werden.
Abendblatt: Warum joggen Sie eigentlich nicht?
Kunze: Weil man mich dabei sehen könnte. Das wäre mir peinlich.
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