Heinz 2000 (Foto von Nikolai Georgiew)

2001

20 Jahre Unvernunft

Heinz Rudolf Kunze ist das Chamäleon der deutschsprachigen Rockmusik. Jedes Album klingt anders und auch optisch hat er etliche Wandlungen durchgemacht. Vor allem ist er aber ein Meister des geschliffenen und wohldurchdachten Wortes. Dies beweist er auch auf dem aktuellen Album HALT. Nach seinem umjubelten Konzert in Freiburg/Breisgau sprach Heinz Rudolf Kunze mit Michael Puchner über seine schon 20 Jahre andauernde Karriere, die in Österreich leider kaum wahrgenommen wurde. Dabei ist Kunze bekennender Wien-Fan.

X-ACT: Als auf dem österreichischen Sender Ö3 deutsche Songs noch nicht verpönt waren, hörte ich 1981 den Titel Für nichts und wieder nichts von einem bis dato unbekannten, jungen Künstler namens Heinz Rudolf Kunze. Das war vor ganzen 20 Jahren. Ist die aktuelle Tournee so etwas wie ein 20 Jahr-Jubiläum?

HRK: In diesem Jahr gibt es drei Tourneeteile. Der erste findet gerade jetzt statt, der zweite sind die Sommerfestivals. Beim dritten Teil im Herbst wird es ein Konzert geben, das als "20 Jahre Kunze auf der Bühne" angekündigt wird. Daß es in Hamburg stattfindet, ist kein Zufall, denn dort konnte ich zum ersten Mal eine Halle ausverkaufen. Damals waren es zwar nur 1000 Leute, gegenüber den 72 Zuhörern in Bielefeld war das aber eine ganze Menge.

X-ACT: Normalerweise ist eine Bestandsaufnahme eher ein Rückblick. Bei dir setzte aber ein Song mit diesem Titel deine Karriere in Schwung. 10 Jahre später war der autobiografische Song Brille so etwas wie eine Zwischenbilanz. Beim neuen Album HALT, also wieder 10 Jahre später, kann man etwas in der Art eher schwer ausmachen. Ich schwanke da zwischen den Titeln Jesus Tomahawk und Wo warn wir stehngeblieben?

HRK: Ja, stimmt. An und für sich ist Jesus Tomahawk der Nachfolger von Brille, weil der Typ inzwischen erwachsen geworden ist und man ihn jetzt so nennen könnte. Aber das ist ein sehr opakes, dunkles Lied mit Anspielungen auf Vaterprobleme und religiöse Zweifel und nicht so klar wie Brille. Und Wo warn wir stehngeblieben? ist auf jeden Fall ein Lied, das für Mittvierziger wie mich sehr gut geeignet ist. In unserer ungemein wirbligen Zeit habe ich mit meinen 44 Jahren schon öfters das Gefühl, Dinge bereits nicht mehr zu verstehen. Die Frage "Wo warn wir stehngeblieben, wo sind wir nicht mehr mitgekommen?" haben sich vor 20 Jahren erst 60-jährige gestellt.

X-ACT: Die 20 Jahre HRK sehe ich in mehrere Phasen eingeteilt. Die erste ging so bis 1984/85, gemeinsam mit Mick Franke, deinem früheren musikalischen Partner, der kürzlich verstorben ist. Ist das neue Lied Abschied muß man üben, in dem es ums Sterben und um die vorbereitende Trauerarbeit geht, für Mick geschrieben oder Zufall?

HRK: Es ist absoluter Zufall, denn das Lied gibt es schon seit einem Jahr und Mick ist ja erst kürzlich beim Fußballspielen einfach tot umgefallen. Wenn ich jetzt masochistisch wäre, müßte ich mir wünschen, daß es vom ersten Tourkonzert in Cloppenburg eine Aufzeichnung gäbe, denn da mußte ich nämlich heulen beim Singen. Ich habe Mick seit 31 Jahren gekannt und er war einer meiner fünf besten Freunde. Ich habe mir manchmal schon die makabre Frage gestellt, wer wohl von den Leuten, die mit mir gespielt haben, als erstes sterben wird. Meistens hätte ich auf mich getippt, nicht aber auf Mick.

X-ACT: War die musikalische Trennung von ihm im Jahr 1985 sehr schmerzlich?

HRK: Ja, äußerst schmerzlich. Ich habe diesen Schritt getan, weil ich musikalisch weiterkommen wollte, und das ging mit Mick einfach nicht. Die Trennung bewirkte, daß wir uns sechs lange Jahre nicht mehr sahen und miteinander sprachen. 1991 rief er plötzlich an und sagte, er würde gerne meine Kinder sehen. Von da an war alles wieder O.K.

X-ACT: Seit 1985 ist Heiner Lürig dein musikalischer Partner. Damals begann auch deine sehr erfolgreiche Phase mit Hits wie Dein ist mein ganzes Herz. Die Texte wurden – so schien es – verständlicher, die Musik emotionaler und eingängiger. Der Kopfsalat schien das Herzblut zu entdecken.

HRK: Es gab sicher einige Songs, die einfacher zu verstehen waren. Aber die grundsätzliche Linie der Texte habe ich nie ganz verlassen. Es gab auch auf den erfolgreichsten Platten wie Herz und Wunderkinder immer wieder Songs, die genau so ehrgeizig und eigensinnig waren wie alles, was vorher gelaufen ist. Auch auf dem darauf folgenden Album Einer für alle (1988) war mit Schutt und Asche ein Stück, das ungemein verschlüsselt und ebenso schwierig war wie frühere Texte. Immer wieder muß ich mir vorwerfen lassen, ich würde mich sozusagen aufgesetzt expressionistisch ausdrücken. Es tut mir leid, wenn das jemand so empfindet. Aber ich versuche nur, es genau so zu sagen, wie es mir einfällt. Die Bilder, die ich wähle, sind nicht eine krampfhafte Verklausulierung, sondern die Form, in der mir etwas einfällt.

X-ACT: Wie muß man sich überhaupt den Werdegang eines Kunze-Songs vorstellen, wenn du auch die Musik dazu machst. Ist immer der Text zuerst vorhanden, ist es genau umgekehrt oder findet Musik und Text auch parallel statt?

HRK: Es gibt absolute Glücksmomente, wenn beides gleichzeitig auftaucht, wenn man eine Wortfolge aufschreibt und gleichzeitig hört, wie sie klingt. Das passiert aber nicht immer. Trotzdem fühle ich mich insgesamt wohler, wenn der Text zuerst vorhanden ist. Es gibt zwar einige Gegenbeispiele, wie Dein ist mein ganzes Herz. Das sind sogar meist Stücke, die von den Leuten besonders gemocht werden. Aber ich fühle mich dabei durch die Musik ziemlich eingeengt, da kann ich nicht so richtig frei schweifen.

X-ACT: Mit dem Album Draufgänger kam 1992 dann wieder eine Kehrtwendung hin zu schwieriger, und vor allem auch musikalisch härterer Kost. Hattest du zuvor das Gefühl, vorhersehbar zu sein?

HRK: Nein. Ich hatte das Gefühl mit Brille (1991) eines meiner besten Alben überhaupt gemacht zu haben. Auch mein Fanklub hat es zu seinem Lieblingsalbum ernannt. Das konnte und wollte ich nicht wiederholen. Es war an der Zeit, etwas ganz anderes zu machen. Das nenne ich bei mir den Neil Young-Impuls. Immer wenn ich etwas gut hingekriegt habe, möchte ich dann beim nächsten Mal etwas ganz Anderes machen und die Leute auch etwas irritieren. Nicht, daß ich sie erschrecken und wegjagen will, aber sie sollen merken, es gibt auch noch eine andere Seite bei dem Mann. Ich war damals ungemein beeinflußt von Neil Young und seinen elektrischen Platten und das mußte bei Draufgänger irgendwie raus. Es gibt hier auch ganz offensichtliche Zitate. Der Song Lebend kriegt ihr mich nicht beginnt mit einem Riff, das hat Neil nie gemacht, aber es hätte vom ihm sein können.

X-ACT: Dann kam die Auflösung deiner langjährigen Band, der Verstärkung, und mit den neuen Mannen das Album Richter-Skala ...

HRK: ... das ich persönlich sehr mag. Damals habe ich sehr gelitten, daß die Leute das nicht so sahen und angenommen haben.

X-ACT: Jedenfalls gibt es seither keine längeren musikalischen Phasen, sondern es herrscht große Abwechslung von Album zu Album, keines gleicht dem anderen.

HRK: Das hat auch damit zu tun, daß diese Band unheimlich belastbar ist. Die Musiker können sehr viel, ich kann ihnen sehr viel zumuten und wir haben keine Lust, immer wieder das selbe Formular musikalisch auszufüllen.

X-ACT: Es steckt also kein Kalkül dahinter, um mehrere verschiedene Publikumsschichten bei der Stange zu halten?

HRK: Das wäre in Deutschland ein eher nicht förderlicher Gedanke. Man fährt hierzulande geschäftlich besser, wenn man eine Schiene konsequent bedient. Aber ich bin nicht 20 Jahre bei der selben Plattenfirma, um vernünftig zu sein. Die WEA hat mich als Unvernünftigen eingekauft.

X-ACT: In einem Text deines neuesten Buches Klärwerk kommt die Jugend von heute ziemlich erbärmlich weg. Da ist von gepiercten Spießern die Rede, die sich bestenfalls für die eigene Verdauung engagieren. Gelingt es dir, deinen eigenen Kindern andere Sichtweisen und Werte mitzugeben?

HRK: Der Text ist natürlich äußerst gemein geschrieben und fordert zu Widerspruch heraus. Ich beziehe ja sehr gerne eine extreme Position in der Hoffnung, daß mich jemand widerlegt. Das ist ja die Aufgabe eines Schreibers, daß er sich weiter vorwagt als üblich und dann auch in Kauf nimmt, abgewatscht zu werden. Ich habe im übrigen kein Problem mit meinen beiden Kindern, die sind sehr in Ordnung und stabil. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn sie plötzlich mit einem Zungenpiercing ankämen. Aber ich glaube nicht, daß sie so neurotisch sind und das tun werden. Sie wachsen in einem Haushalt auf, in dem es bislang noch keinen Generationkonflikt gab, obwohl sie 15 und 13 Jahre alt sind. Da haben wir vielleicht auch ein bißchen Glück, denn der Vater hat einen so bekloppten Beruf, daß er sich nicht zum Feind eignet.

X-ACT: Gibt es eigentlich schon neue Projekte für die Zeit nach der Tour? Vielleicht ein neues literarisches Programm?

HRK: Das wird es sicher geben. Es ist höchste Zeit, daß diese Geschichte, die ich mit dem Programmen Sternzeichen Sündenbock und Der Golem aus Lemgo angefangen habe, weitergeführt wird. Wir werden wahrscheinlich unmittelbar nach dem Ende der aktuellen Tournee im Spätherbst ein drittes literarisches Album aufnehmen und 2002 mindestens 50 mal in Deutschland ein derartiges Programm spielen. Das wird ja auch langfristig meine Zukunft sein. Hoffentlich ist es noch lange hin, aber irgendwann wird der Rock'n'Roll nicht mehr gehen. Dann werde ich wohl als Hans Dieter Hüsch enden, nur werde ich etwas mehr Musik dabei haben, alles etwas elektronischer und zeitgemäßer. Sozusagen Hüsch meets "Mouse on Mars".

X-ACT: Auch wenn deine Alben in österreichischen Plattenläden aus Unwissenheit schon mal in den Rubriken Kabarett oder Humor landen und deine bisherigen Versuche, in Österreich Fuß zu fassen, eher erfolglos waren, dennoch: Gibt es Kunze auch wieder mal live in Österreich zu erleben?

HRK: Ich hoffe das sehr, denn von den wenigen Menschen, die uns die paar Mal in den vergangenen 20 Jahren in Österreich gesehen haben, wurden wir sehr nett aufgenommen. Es war eine genauso kenntnisreiche Gemeinde wie vielleicht die im Süden Deutschlands, wo ich es bislang auch nie leicht gehabt habe. Ich muß natürlich meine Agentur respektieren, die in Österreich noch keine lohnenden Ergebnisse erzielen konnte. Ich bedaure das sehr, denn ich bin seit der Arbeit an Les Miserables (Kunze schrieb das deutsche Libretto – Anm. d. Red.) ein so ausgeprägter Wien-Fan, daß ich es sehr vermisse. Ich persönlich könnte mir ja sogar vorstellen, nach Wien zu übersiedeln, doch für meine Frau kommt höchstens noch Berlin in Frage. Aber ich wünsche mir, daß unsere Hamburger Agentur wieder den Mut aufbringt, uns nach Österreich zu schicken, denn ein paar Leute hätten es sich wirklich verdient. Aber vielleicht würde bei euch sogar das literarische Programm besser funktionieren, wer weiß?

X-ACT: Na dann, vielen Dank für das Interview und vielleicht bis auf bald in Österreich.

HRK: Zumindest beim Heurigen.

Michael Puchner, Musicmagazine X-Act, Juni 2001

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