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"Man muß nicht mehr so viel beweisen"
Unzählige Musikpreise hat Heinz Rudolf Kunze schon eingeheimst, aber der Rockmusiker aus Osnabrück hat bekanntermaßen auch eine poetische Ader: Fünf Lyrikbände veröffentlichte er bereits, der sechste erscheint im März 2001. Und damit nicht genug: Auch als Übersetzer bekannter Musicals machte er sich einen Namen. So zählen die deutschen Fassungen von Les Misérables, Joseph, Miss Saigon und Rent zu seinen Verdiensten, für die er ebenfalls Preise erhielt. Mit Amazon.de sprach HRK über das neue Album Halt, seine Familie und die Anfänge seiner Karriere.
Amazon.de: Heinz, dein neues Album Halt ist wirklich hörenswert geworden, aber es ist eigentlich gar kein richtiges Rockalbum mehr.
Heinz Rudolf Kunze: Öööööh – was soll ich jetzt dazu sagen! Aber letztendlich würde ich es schon im weiteren Sinne als Rockalbum sehen. Es ist vielleicht ein bißchen gelassener und nicht mehr so laut. Man muß nicht mehr so viel beweisen, daß man auch laut reinhauen kann. Wir tun es ja noch gelegentlich wie bei Talk Show Schmutz, also wenn es paßt – wie Loriot sagen würde – hauen wir schon noch rein. Aber insgesamt ist es nicht für mich der Maßstab gewesen, jetzt unbedingt sehr laut und sehr drastisch zu sein. Ich fühle mich bei diesem Album so ein bißchen erinnert an das neue von U2, über das ich in englischen Musikzeitungen gelesen habe: Das sind jetzt Männer, die damit zurechtkommen, daß sie ins Mittelalter geraten. Und das war bei mir bei diesem Album auch so.
Amazon.de: Du bist jetzt 44, da fangen Männer bekanntlich an, erwachsen zu werden.
Heinz Rudolf Kunze: Ich hoffe, ich werde nie in einem häßlichen Sinne erwachsen, aber ein paar Dinge bleiben nicht aus. Die haben sich schon seit 24 geändert. Aber eigentlich möchte ich nie erwachsen werden, möchte doch meine spielerischen Neigungen und eine gewisse Kindlichkeit im Experimentieren immer behalten.
Amazon.de: Es ist seit 20 Jahren immer noch und immer wieder faszinierend, mit welcher Eloquenz du dich ausdrückst und vor allen Dingen, daß du in der freien Sprache absolut druckreif sprichst und dich praktisch nie in "Ähs" und "Ahems" verlierst.
Heinz Rudolf Kunze: Na klar, es gibt natürlich einige Kollegen, die mehr "Ähs" sagen als Worte, aber damit war ich immer schon geschlagen gewesen. Schon als Schüler habe ich so gesprochen. Ich kann nichts dafür – verzeih's mir!
Amazon.de: Du hast diese Gabe also auch schon als Kind gehabt?
Heinz Rudolf Kunze: Ja, ich bin so aufgewachsen. Ich komme aus einem kleinbürgerlichen Lehrerelternhaus. Beide Eltern sind Lehrer und man hat mich relativ früh infiziert mit Literatur und Kunst. Das wird dann wahrscheinlich tief drin sein, und man kann nicht anders. Das ist so mein normales Verhalten. Ich weiß, daß das manche Leute verwundert, verblüfft, manche auch abstößt, ja abschreckt. Aber ich bin eigentlich gar nicht so schwierig.
Amazon.de: Haben das deine Kinder von dir geerbt?
Heinz Rudolf Kunze: Da bin ich mir noch nicht so sicher. Die Tochter, Marlene, auf jeden Fall nicht. Sie ist zwölf und hat, glaube ich, mehr von der Mutter. Mein Sohn Paul vielleicht. Er ist 15, der geht so ein bißchen in meine Richtung. Was ich ihm nicht wünsche, eigentlich sollte er anders werden als ich. Er muß das nicht versuchen, in meine Fußstapfen zu treten, das möchte ich gar nicht erzwingen. Ich freue mich über alles, was ihn von mir unterscheidet. Zum Beispiel ist er ein großartiger Fußballer, das war ich nie.
Amazon.de: Also, wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Künstler wie dir und einem Fußballer, würde ich schon lieber den Künstler nehmen.
Heinz Rudolf Kunze: Ja, gut (lacht laut) – trotzdem ist das kein Lebensweg, den man einem Kind guten Gewissens empfehlen kann. Weil es von so vielen Zufällen abhängig ist, daß das klappte, was ich gemacht habe. Das hat ja nicht nur mit Talent zu tun oder mit Begnadung oder so etwas, sondern erstens einmal mit sehr viel Arbeit und zweitens noch mit glücklichen Umständen, die zusammenkommen müssen, damit es klappt. Und ich wäre sehr froh, wenn mein Sohn sich was anderes überlegt und nicht versucht, es nachzumachen. Es sieht auch nicht so aus.
Amazon.de: Hat er ein musisches Talent?
Heinz Rudolf Kunze: Ja, schon. Beide Kinder hören durchaus das, was ich mache, aber schon mit einem gesunden Abstand. Also, sie sind nicht völlig fanatisch, was der Vater so macht. Mein Sohn hört meine Platten sehr aufmerksam, sehr genau, aber steht doch eigentlich mehr auf Die Ärzte als auf mich. Finde ich auch völlig in Ordnung. Und meine Tochter hört mich eher beiläufig und findet eigentlich Blümchen viel besser als Kunze. Ist auch völlig in Ordnung. Wenn man zwölf ist und ein Mädchen, ist das völlig korrekt.
Amazon.de: Ich denke auch nicht, daß du Musik für junge Leute machst.
Heinz Rudolf Kunze: Das habe ich eigentlich nie. Als ich 24 war und angefangen habe, waren meine Hörer auch schon mindestens 20. Das Teenie-Publikum als Zielgruppe war mir immer verschlossen. Es war mir nicht möglich, das zu erreichen, habe ich auch nie versucht. Ich freue mich zwar über jeden, der zu mir stößt, und jeder ist herzlich eingeladen, aber das, was ich tue, ist nicht bewußt auf junge Leute ausgerichtet. War es auch nie.
Amazon.de: Das hat vermutlich auch damit zu tun, daß du in der Wortwahl bei deinen Liedern so völlig anders bist als der Durchschnitt der deutschsprachigen Hitparadenmusik.
Heinz Rudolf Kunze: Das bringt mich auf ein komisches Mißverständnis, mit dem ich mich manchmal auseinander setzen muß. Es gibt Leute, die mich wahrscheinlich nur sehr flüchtig kennen, und die sagen, ich würde Schlager machen. Das kann eigentlich nur an den manchmal hübschen Melodien liegen, die ich mache. Denn wenn ich ein Schlagersänger bin, dann ist Bob Dylan der größte Schlagersänger aller Zeiten.
Amazon.de: Wenn man unter Schlager Lieder versteht, die jeder kennt, die jeder mitsingen kann, die (fast) allen gefallen, dann könnte man das durchaus bejahen.
Heinz Rudolf Kunze: Dann verstehst du das Wort Schlager aber so wie ich und somit völlig anders als der Rest der Welt. Ein normaler Schlager unterscheidet sich, denke ich, von meiner Arbeit dadurch, daß im Schlagertextbereich keine Neugier stattfinden darf. Man darf nicht auf ungewohnte Dinge stoßen. Schlager besteht darin, daß Erwartungen, die man schon hat, bestätigt werden. Das ist meine Arbeit hoffentlich nicht. Ich denke, daß man schon immer wieder bei meiner Arbeit verblüfft sein kann und gelegentlich etwas hören kann, bei dem man denkt, das so noch nie gesehen zu haben.
Amazon.de: Das ist bei deinem neuen Album sicher der Fall. Da sind Formulierungen drin – ich denke nur an die "Augenstrudel" – die man sonst nirgendwo findet.
Heinz Rudolf Kunze: Man findet es leider innerhalb der deutschen Kollegenschaft nicht so häufig, da gebe ich dir recht. In England und Amerika gibt es ein paar Kollegen, die das machen. Deswegen fühle ich mich da auch eher beheimatet und würde auch vielmehr dort meine Kollegen sehen, als hier zu Lande. Leider ist im Land der Dichter und Denker diese Art, Worte zu behandeln, ein bißchen ausgestorben. Aber ich gebe ja nicht auf!
Amazon.de: Würdest du dir zutrauen, deine Texte adäquat ins Englische zu übertragen?
Heinz Rudolf Kunze: Ich würde mir das durchaus zutrauen. Ich kann wahrscheinlich besser Englisch als die meisten Kollegen hier zu Lande, die auf Englisch singen. Ich arbeite ja als Übersetzer aus dem Englischen. Aber warum sollte ich das tun? Ich habe meine Einfälle in Deutsch und die Frage hat sich mir nie gestellt. Sie wurde mir oft gestellt von deinen Kollegen: Warum singen Sie eigentlich nicht in Englisch? In den 80er-Jahren war das eine regelmäßige Frage, mit der man sich immer wieder herumschlagen mußte. Und ich habe damals schon gesagt, ich finde diese Frage merkwürdig, ich kann diese Frage nicht verstehen. Warum sollte ich das tun, Bob Dylan singt auch nicht Kisuaheli.
Amazon.de: Ich dachte eigentlich eher daran, daß du deine Sachen vielleicht auch in England oder Amerika veröffentlichen willst.
Heinz Rudolf Kunze: Ja, das ist sicherlich ein unerfüllter Traum, und ich fürchte, der wird auch unerfüllt bleiben, weil die Abneigung der Engländer und Amerikaner gegen alles, was aus Deutschland kommt, doch immer noch sehr massiv ist. Die warten da nicht auf mich, die haben eben Bruce Springsteen und Paul Simon und Randy Newman und Lou Reed usw. Wir leben in unserem Land in einer kulturellen Einbahnstraße. Es interessiert hier jeden, was in Los Angeles passiert, aber in Los Angeles interessiert es keinen, was in Dortmund passiert. Das ist eben so.
Amazon.de: Und wie sollte man das ändern?
Heinz Rudolf Kunze: Das ist sicherlich eine geschichtliche Spätfolge. Das hat wohl immer noch mit dem unseligen deutschen Image zu tun. Das hab ich sozusagen Herrn Hitler zu verdanken, daß ich in Amerika kein Star bin (grinst breit).
Amazon.de: Du hast vorhin gesagt, daß deine Karriere auf sehr vielen Zufällen basiert. Welche zum Beispiel?
Heinz Rudolf Kunze: Das war gleich am Anfang so. Obwohl ich es in Bayern immer sehr schwer hatte, ist ja nun Bayern verantwortlich für den Beginn meiner Laufbahn. In Würzburg hat ja schließlich alles angefangen. Ich weiß, das ist Franken und also nicht so richtig Bayern, aber trotzdem. Das war nämlich die einzige öffentliche Chance, die ich mir gegeben habe, da ich ja fünf Minuten vor dem Staatsexamen stand. Es war für mich klar, daß die Musik in meinem Leben nichts wird, ich hatte diesen Traum eigentlich schon beerdigt. Daß die paar Konzerte, die ich als Student gegeben hatte, mit selbst gemalten Plakaten, die ich auch selber noch in den Kneipen aufgehängt habe, zu nichts führten, schien klar. Das wollte irgendwie niemand hören, was ich da machte. Und da habe ich im Radio die Aufforderung gehört, an diesem Wettbewerb teilzunehmen, und das war dann eben das Tor zur Welt und nicht nur ein kurzer Ausflug – wie ich zuerst dachte – sondern ein richtiger Beruf, der mich hoffentlich mein Leben lang begleiten wird. Wenn ich bedenke, was das für ein Zufall ist, wie ich da reingeraten bin, und daß ich im richtigen Moment am richtigen Ort war. Das war damals die Zeit, als alle Plattenfirmen in hellem Aufruhr waren, es war die Zeit der "Neuen Deutschen Welle" und jeder, der deutsch gesungen hat, hatte eine Chance. Es war ein geschichtliches Nadelöhr, ein Zeitfenster, würde man wahrscheinlich heute sagen. Das hat eben funktioniert, und es gab dann in den letzten 20 Jahren so viele Möglichkeiten, Fehler zu machen. Und viel habe ich auch nicht ausgelassen, aber gut, ein paar Sachen habe ich offensichtlich auch richtig gemacht. Daß man daraus aber etwas Stetiges, etwas Zuverlässiges machen konnte, auf dem sich sogar eine Familie gründen und eine Existenz aufbauen ließ, ist einfach ein derartiger Ritt über den Bodensee gewesen, daß ich das keinem guten Gewissens empfehlen kann. Da muß man schon sehr besessen sein, um sich so etwas auszusuchen.
Amazon.de: Wann hast du deine Frau kennen gelernt?
Heinz Rudolf Kunze: Noch vor der Musik. Wir sind ein echtes Dinosaurierpaar. Ich will nicht sagen Sandkastenliebe, das nicht, obwohl es ein Sandkasten war – nämlich auf einer Nordseeinsel – wo wir uns kennen gelernt haben. Wir sind eigentlich zusammen, seit wir 15 sind.
Amazon.de: Das sind ja bald 30 Jahre!
Heinz Rudolf Kunze: Ja.
Amazon.de: Und Ihr liebt euch immer noch?
Heinz Rudolf Kunze: Mit Abstrichen, ja. (Lacht laut.) Auf jeden Fall funktioniert es. Ich bin ohnehin ein ziemlich treuer Hund. Ich habe immer noch die gleiche Plattenfirma, ich trenne mich nur sehr ungern von Musikern, ich bin ein stetiger Mensch, ein Preuße halt.
Amazon.de: Hat deine Frau etwas mit deiner Karriere zu tun gehabt?
Heinz Rudolf Kunze: Nein, Gott sei Dank nicht. Ich könnte niemals mit einer Yoko Ono leben, die mir beim Schreiben über die Schulter guckt und versucht, da gleichsam reinzuregieren. Meine Frau hört das, was ich mache sehr intensiv, aber erst, wenn es fertig ist. Das finde ich sehr schön. Sie wartet ab, sie will keine Demos hören, sie will nicht ins Arbeitszimmer reinkommen – nach dem Motto: "Na, was machst du gerade?" Es soll fertig produziert sein. Da ist sie Profi, kann man sagen. Sie will genau das hören, was ich vorgehabt habe – und kein Zwischenstadium.
Amazon.de: Und dann nimmt sie sich die Freiheit zu sagen, daß etwas toll oder nichts ist?
Heinz Rudolf Kunze: Ja, sie ist aus Dortmund. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund.
Amazon.de: Was kannst du uns zu deinem neuen Album erzählen.
Heinz Rudolf Kunze: Fühlst du das erinnert mich musikalisch an die kurze Periode, als ich einmal die Simple Minds mochte, so ihr mittlerer Abschnitt, bevor sie dann am Ende ganz pompös und bombastisch wurden. Vom Text her werde ich oft gefragt, ob ich da jemand Bestimmten im Auge hatte und das an eine bestimmte Person adressierte? Die Antwort lautet nein. Damit hat auch meine Frau – Gott sei Dank – kein Problem. Sie weiß natürlich, daß ich bei Beziehungstexten immer bei ihr ansetze, aber es werden dann in der Musik Menschen entworfen, die mehr sind als jemand Bestimmtes. Es ist eigentlich doch eine offene Einladung an alle Frauen dieser Welt, mindestens! Wenn nicht sogar auch an Männer.
Pegasus ist ein sehr zuversichtliches Liebeslied, weil es behauptet, daß es doch funktionieren kann, daß man sich doch zusammenraufen kann. Daß man dieses Abenteuer, dieses Wagnis, doch zusammen riskieren soll, es muß nicht immer schief gehen. Wie es schief gehen kann, das ist dann das nächste Lied. So tun als ob ist ein Spannerlied, ein Voyeursong. Ein Mann, der sich fanatisch hineinsteigert in die Anbetung einer Frau, die er aber eigentlich gar nicht persönlich besitzen will, weil er sich gar nicht im Stande sieht, ihr gerecht zu werden. Er hält sich für ziemlich mies und klein und unscheinbar. Fotos von ihr zu haben und sie durch ein Teleskop zu beobachten ist ihm wichtiger, als sie wirklich zu besitzen.
Halt ist ein untypisches Lied für mich, weil ich eigentlich eine Allergie habe gegen Imperative. Ich mag Leute in meiner Musik nicht unbedingt zu etwas auffordern. Aber dieses Mal habe ich mir einfach einen Ruck gegeben und fordere Leute auf, einfach einmal bestimmte Dinge sein zu lassen, wie zum Beispiel andersartige Menschen zu verhauen, was in diesem Lande leider eine Modeerscheinung geworden ist. Wo warn wir stehen geblieben ist ein Hauptwerk der CD, würde ich sagen, eines der wichtigsten der Platte. Es handelt davon, daß man sich Mitte 40 schon eine Frage stellt, die sich Leute früher erst Mitte 60 gestellt haben. Nämlich, was entgleitet mir alles, wo bin ich nicht mehr auf dem Laufenden. Die Zeit wird immer schneller, die Informationen, die Lebensgefühle überstürzen sich und man hat heute schon in meinem Alter manchmal bereits das Gefühl, daß man nicht mehr mitkommt, daß unsere Zeit eine Rasanz angenommen hat, ein Tempo, wo man gar nicht mehr zum Durchatmen kommt.
Jesus Tomahawk ist das Schönste, was Lürig jemals auf der Gitarre gespielt hat, finde ich. Wenn man als junger Mensch noch gedacht hat, man wüßte, wo der Hammer hängt und was gut und böse ist, wird man eigentlich, je älter man wird, desto vorsichtiger in seinem Urteil. Man kann es negativ ausdrücken und sagen ratlos, man kann es positiv ausdrücken und sagen, man wird vorsichtiger im Urteil. Und ich hab mich sehr getröstet und verstanden gefühlt bei einem Film über den Ostberliner Dramatiker Heiner Müller, der kurz vor seinem Tod in Berlin in die Kamera sagte, je älter er werde, desto weniger wüßte er, was gut und böse sei. Der Mann hat mich verstanden. Talk Show Schmutz ist einfach ein Rocker über die ekelhafte öffentliche Beichte, die abgelegt wird. Das Lied wäre eigentlich unverantwortlich, wenn ich nicht die Wir-Form gewählt hätte. Ich beziehe mich mit ein, wir sind alle gierig auf Aufmerksamkeit, auf Ruhm, wir wollen alle gerne wahrgenommen werden. Murphys Gesetz ist ja bekannt, alles was schief gehen kann, geht schief. Ich finde, so ist die Welt auch, und ich versuche zu beschreiben, wie eine schönere Welt aussehen kann. Es ist die Beschreibung einer Utopie. Ophelia hab ich ein bißchen von Shakespeare entwendet, die hat da auch ihren Hamlet. Aber es ist dieses Mal keine Königsmord-Geschichte, sondern eine Drogen-Geschichte. Sie hat einen Freund, der offensichtlich daran kaputt geht und sie kann ihm nicht helfen. Sie müssen mich nicht mögen – ein böses Lied, aber ich liebe es. Es spricht darin ja nur ein Mensch und es ist gar nicht festgelegt, wie man es sehen muß. Mein Schlagzeuger hat es völlig anders verstanden als ich, er sagt, es ist ja so offen gehalten, es könnte ja auch eine ältere Dame sein, die sich einen jungen Lover kauft. Es geht auf jeden Fall um gekaufte Liebe.
Danach kommt wieder so ein richtiger Runterzieher. Abschied muß man üben ist ein sehr ernstes Stück über das Sterben bzw. über das Überleben. Wir sind ja dann noch da und müssen damit umgehen, daß einige Menschen, die wir kennen, nicht mehr da sind. Wie wir halt versuchen, damit zurechtzukommen, davon handelt das. Es bleibt wahrscheinlich nicht aus, wenn man alte Eltern hat, wo man absehen kann, daß sie irgendwann in näherer Zukunft sterben werden. Bist du zufrieden jetzt ist der Song zu Babs und Boris. Ein Mann sitzt in den Trümmern seines Lebens, die Frau will nicht mehr und ist weg und hat einen Haufen dampfender Ruinen hinterlassen. Und er sitzt jetzt in den Trümmern und fragt sich, ob er das angerichtet hat, ob er das wollte? Das ist musikalisch zwar anders, aber die Idee – das gebe ich zu – habe ich geklaut von Elvis Costello und seinem "Hope you're happy now". Gehen ist ein absurdes Lied, eigentlich ein Scherz. Ich mußte das machen, denn ich glaube, ich bin der unwilligste Fußgänger der Welt. Ich fahre auch zur Apotheke, die gleich nebenan liegt, mit dem Auto. Ich gehe unglaublich ungern zu Fuß und deshalb mußte ich mal eben meine Möglichkeit als Schreiber benutzen um eine Gegenentwurf zu machen, mir etwas zuzuschreiben, was mir gar nicht zukommt.
Amazon.de: Treibst du Sport?
Heinz Rudolf Kunze: Ja, zumindest Tretrad, Hometrainer. Ich lasse mich ungern auf dem Fahrrad draußen von Menschen sehen, aber bei offenem Fenster und lauter Musik zu Hause in meinem Arbeitszimmer schon – jeden Tag 40 Minuten.
Amazon.de: Aber warum fährst du dann nicht mit dem Fahrrad zur Apotheke?
Heinz Rudolf Kunze: Weil mich die Menschen dann ja sehen würden und das wäre mir peinlich.
Amazon.de: Warum?
Heinz Rudolf Kunze: Weil ich keine strammen Waden habe.
Amazon.de: Dann kannst du ja einfach lange Hosen anziehen.
Heinz Rudolf Kunze: (lacht laut) Nein, das mag ich nicht. Öffentlich Fahrrad fahren? Nein, da schäme ich mich. Aber zu Hause jeden Tag, das tut mir auch gut. Livemusik machen ist ja eine sehr anstrengende Sache, und ich glaube schon, daß mir das hilft, überhaupt Luft zu kriegen.
Amazon.de: Treten deine Kinder mit?
Heinz Rudolf Kunze: Mein Sohn Paul ist ja sehr sportlich, er ist ja Fußballer, was ich sehr bewundere. Ich wäre als Schüler gerne Sportler gewesen, aber ich konnte nicht, weil ich eine schlimme Knochenkrankheit im linken Bein hatte und teilweise als Kind auf Krücken gehen mußte. Ich war also leider untauglich zum Sport. Und deshalb freue ich mich sehr, wenn er so darin aufgeht. Marlene, meine Tochter, ist eher so typisch Mädchen: Sie macht Ballett.
Amazon.de: Bleiben wir noch ein bißchen bei deiner Kindheit und Jugend. Du hast erzählt, daß du schon als Kind so ausdrucksstark geredet hast wie heute. Hast du da nicht mit den anderen Kindern Probleme bekommen?
Heinz Rudolf Kunze: Ach weißt du, das war aus mehreren Gründen schwierig, nicht nur wegen der Art, wie ich mich ausdrücke. Ich hatte das Unglück, in meiner Kindheit sehr oft von Ort zu Ort verpflanzt zu werden. Meine Eltern sind in der entscheidenden Zeit, wo man als Kind gerne Freunde hat und Wurzeln schlagen möchte, sehr oft umgezogen. Das hat mich ohnehin isoliert, da hätte ich reden können, wie ich wollte. Diese vielfache Ortsveränderung hat auch dazu geführt, daß ich nie einen Akzent angenommen habe. Ich bin ja eigentlich abkünftig aus einer Gegend, wo man durchaus einen Akzent hat, nämlich aus der Lausitz, zwischen Cottbus und Frankfurt/Oder. Aber ich bin eben im Nordwesten Deutschlands in einem Zick-Zack-Kurs aufgewachsen und war zum Einzelgänger verdammt, weil ich immer der Neue war.
Amazon.de: Hast du Geschwister?
Heinz Rudolf Kunze: Ja und nein. Ich habe einen Bruder, der ist zwölf Jahre jünger als ich – also fast eine andere Generation. Wir sind praktisch zwei Einzelkinder gewesen. Der hat immerhin all das geschafft, was ich nicht geschafft habe. Er ist Professor für Geschichte in Mainz.
Amazon.de: Also wenn ich mir so anschaue, was du alles geschafft hast, dann ist Professor für Geschichte in Mainz eher nicht so aufregend.
Heinz Rudolf Kunze: Um Gottes Willen, nein, das würde ich nicht sagen. Es gab einmal eine Zeit, in der ich sehr beunruhigt war, als mein kleiner Bruder – der für mich eher fast ein Sohn als ein Bruder war – plötzlich anfing Keyboards zu spielen und versucht hat, mich nachzumachen. Ich war heilfroh als der Ulli dann gemerkt hat, daß das für ihn nichts ist. Wir haben zwar Gemeinsamkeiten, aber wir haben auch deutliche Unterschiede. Ich bin doch eher der ausschweifende Spinner, und er ist ein ganz akribischer, typischer Wissenschaftler. Er ist ganz genau, und historische Forschung ist ihm ganz gemäß und da ist er auch frühzeitig draufgekommen und auch ganz darin aufgegangen.
Amazon.de: Und wann hast du beschlossen, künftig Lieder zu schreiben?
Heinz Rudolf Kunze: Das fängt natürlich im kleinsten Kreis an. Irgendwann mit 13, 14 merkt man, daß man durch ein paar Einfälle, die man hat, seinen kleinen Freundeskreis faszinieren kann. Da sitzen dann im Kinderzimmer Leute mit offenen Mäulern herum und hören dir zu. Und wenn du dieses Gefühl einmal gehabt hast, daß du diese Magie hast, Leute durch deine Einfälle zu begeistern, wirst du nie wieder davon loslassen. Das ist schlimmer als Heroin. Die Lust beides zu machen, also Texte und Musik, ist ungefähr gleichzeitig aufgetreten.
Amazon.de: Aber du schreibst nicht grundsätzlich jede Musik selbst. Auf deinem neuen Album Halt hat auch dein Gitarrist Heiner Lürig eine Menge geschrieben.
Heinz Rudolf Kunze: Bei diesem Album hat er besonders viel komponiert, ich glaube sogar ein Stück mehr als ich, was mich besonders ärgert. Ich würde sagen, insgesamt gesehen – über die Karriere – sind so ungefähr 60 bis 65 Prozent der Musik von mir.
Amazon.de: Man fängt ja nicht von jetzt auf gleich mit dem Komponieren an, da gehören ja gewissen Voraussetzungen dazu.
Heinz Rudolf Kunze: Ich habe Klavierunterricht gehabt, ungefähr acht oder neun Jahre lang. Ich habe es zwar nicht studiert, dazu kam ich leider nicht. Gitarre habe ich mir dann selber beigebracht. Und als ich 14 Jahre alt war, wurde ich eingeladen in Osnabrück bei einer Band mit lauter 24-Jährigen mitzumachen. Das war eine örtliche Sensation. Ich galt damals als so eine Art Stevie Winwood von Osnabrück, das Keyboard-Wunderkind. Da hab ich noch gar nicht gesungen, da haben wir nur gespielt. Das war eine schöne Zeit, hat aber nur ein halbes Jahr funktioniert, denn der Generationenunterschied zwischen 24 -Jährigen und einem 14-Jährigen war einfach zu groß – das ging auf Dauer nicht gut.
Amazon.de: Wie ging es dann weiter?
Heinz Rudolf Kunze: Dann gab es noch ein paar andere Versuche, wo ich in schon vorhandene Bands eingestiegen bin, das hat aber nicht funktioniert. Dazu bin zu napoleonisch. Ich wollte mich durchsetzen und die Richtung bestimmen, und das gefiel den anderen immer nicht. Und deswegen habe ich mich dann in meinem Kellerzimmer vergraben und Songs geschrieben und angehäuft, und ein guter Freund, ein Schulfreund, hat die alle auf Band aufgenommen. Er war eigentlich immer für mich da, als privater, unentgeltlicher Toningenieur. Ich glaube, wir haben Katakomben von Liedern gemacht, die gibt es auch zum Teil noch, es sind Hunderte, ohne Übertreibung. Und einige von diesen Lieder aus meiner Schulzeit, noch vor dem Abitur, zwei oder drei, glaube ich, sind dann auch auf mein erstes Album gekommen. Die haben überlebt.
Amazon.de: Aber bis dahin war es ja noch ein langer Weg.
Heinz Rudolf Kunze: Ein langer und ein trostloser Weg. Ich hatte eigentlich nicht geglaubt, daß das etwas werden würde. Gott sei Dank habe ich mir im richtigem Moment die Alarmglocke angemacht und gesagt, versuch es noch einmal öffentlich, bevor du Lehrer wirst oder hoffentlich nicht nur Lehrer, sondern an die Uni gehst. Eine Chance gib' dir nochmal. Und das hat dann auch gefunkt.
Amazon.de: Und dann kam gleich eine Plattenfirma?
Heinz Rudolf Kunze: Da kam nicht nur eine Plattenfirma. Das war ja diese großartige Zeit, in der alle ganz besessen waren, Leute einzukaufen. Ich hatte nach diesem Sieg in Würzburg sechs oder sieben Angebote von den größten deutschen Firmen und konnte damit eigentlich gar nicht umgehen.
Ich weiß noch, der erste Mann, der am Bühnenrand stand und mich am Arm nahm und zu mir sagte, wir müssen morgen dringend zusammen frühstücken, war Ralph Siegel, den ich dann ewig nicht gesehen habe. Letztes Jahr haben wir uns wieder getroffen und auch herzlich erinnert an diese schöne Zeit damals. Jedenfalls habe ich dann nicht mit ihm gefrühstückt, sondern hatte das Glück, daß mein damaliger Gitarrist schon eine ganze Weile als Profimusiker unterwegs war. Der hat mir dann einen Anwalt besorgt, der dann die Angebote bewertet hat und sich dann nach einem 4-wöchigen Nachdenken bei mir gemeldet hat und mir gesagt hat, gehe mal zu WEA, zu Warner Brothers. Was für mich wie ein Märchen war. Denn als absoluter Nobody, der ich war, niemand auf der Welt kannte mich, bei einer der drei größten Plattenfirmen der Welt einen Vertrag zu bekommen – das kann man mit Märchen eigentlich gar nicht richtig beschreiben. Ich bin immer noch da und die mögen mich immer noch. Ich habe jetzt meinen vierten Chef und gehöre schon sozusagen zum Inventar. Das sind jetzt 20 Jahre und 21 Alben.
Amazon.de: Dann auf die nächsten 20 Jahre und 21 Alben!
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