Heinz Rudolf Kunze, der Draufgänger (Foto von Alfred Steffen)

1992

Leck mich doch

Ist Heinz Rudolf Kunze ein Draufgänger? Manfred Gillig erlebte beim Hausbesuch in Hannover ein kompromißloses Coming-Out.

Die Brille muß sein. Schließlich ist sie nicht erst seit seinem letzten Album (Brille) zu einer Art Markenzeichen für Heinz Rudolf Kunze geworden.Musik mit Brille (Foto von Alfred Steffen) Daß viele, die ihn nicht so genau kennen, die Sehhilfe als untrügliches Indiz werten, Kunze sei ein seltsamer Fremdkörper in der deutschen Rockszene, eine Art intellektueller Wolf im harmlosen musikalischen Schafspelz, damit hat er mittlerweile zu leben gelernt. Als ziemlich lästig empfindet er dagegen, daß er früher oft als "Liedermacher" und "Oberlehrer der Rocknation" abgestempelt wurde und daß ihm solche oberflächlichen Etiketten noch immer anhängen. Darüber mag er schon gar nicht mehr reden, und wer seine neueste Platte hört, versteht auch, warum.

Dieses Album möchte mir Heinz Rudolf Kunze vorspielen. Einige Tage vorher hat er die Endabnahme bei der Plattenfirma hinter sich gebracht, und jetzt läuft die Promotion an. Am 28. August kommt das Stück auf den Markt. "Bei der Hörsitzung war Gerd Gebhardt, der Chef von WEA, ziemlich geschockt. Aber danach rief er mich an, um mir zu sagen, daß er es doch gut findet." Kunze grinst. Er hat sein neues Album Draufgänger genannt. Draufgängerisch klingt es in der Tat – und so fühlt er sich anscheinend auch.

Wir sitzen im Arbeitsraum seines Häuschens im grünen Flachland außerhalb von Hannover. An der Tür hängt ein Poster: der Meister als Rocker in Aktion. Neben dem Flügel steht das Heimfahrrad. An der Wand prangt das Plakat mit der Mannschaft der "Raumpatrouille Orion". Kunze ist Fan dieser legendären deutschen TV-Serie und sammelt Fotos der Hauptdarsteller; Commander Dietmar Schönherr hat ihm eigenes eine Widmung geschrieben: "Für Heinz Rudolf". Darauf ist er mindestens genauso stolz wie auf die Tatsache, daß er anno 1983 den Preis der "Deutschen Schallplattenindustrie" für sein Album Eine Form von Gewalt erhalten hat.

Heinz Rudolf Kunze und Manfred Gillig (Foto von Alfred Steffen)
Wo sind die Windmühlen? Heinz Rudolf Kunze schärft den Blick mit seinem Markenzeichen. Und Manfred Gillig (hinten) freut sich mit dem Don Quixote des Deutschrocks über dessen musikalische Heldentaten.
Kunze kennt sich aus, wenn es um Fernsehserien geht. Sein absoluter Favorit ist Monty Python's Flying Circus. "Begnadet" nennt er den unübertroffenen Humor der englischen Komikertruppe. Und nachdem er seine Lieblingsplatten für den "Jailhouse Rock" genannt hat, wünscht er sich nur noch eins: Die englischen Komiker sollten, zumindest auf Video, mit ihm einsitzen, um ihm die lebenslängliche Einzelhaft zu verkürzen.

Vorerst freilich leiste ich ihm Gesellschaft. Die imposante Bibliothek des Gastgebers im Rücken, begutachte ich seine Plattensammlung. Da stehen feine Sachen wie die CD-Box mit allen Oldies des amerikanischen Soul-Labels Stax neben den gesammelten Werken von Throbbing Gristle, der Pioniere des Industrial-Sounds. Kunzes Lieblingsgruppen Wire und Henry Cow haben Ehrenplätze neben Raritäten der 60er Jahre wie beispielsweise von der Edgar Broughton Band oder Pete Browns Piblocto. Und irgendwo dazwischen stehen auch einige CDs, die Kunzes Namen tragen. Das erfüllt ihn mit nicht geringer Genugtuung, denn entgegen aller längst ad acta gelegten Vorurteile, er sei Bücherwurm, Liedermacher oder Literat, verfolgte der in Osnabrück aufgewachsene Sprößling einer Vertriebenenfamilie von Anfang seiner Karriere an nur ein Ziel: zum waschechten Rockmusiker zu werden.

Und dieses Ziel hat er erreicht: "Neulich habe ich Phil Manzanera, den Gitarristen von Roxy Music, getroffen. Er hat mein letztes Album gehört und fand es sehr gut. Er meinte, es sei eine Schande, daß es solche Musik nicht in England gibt." Das wiederum wurmt Heinz Rudolf Kunze ein bißchen: "Natürlich finde ich es schade, daß ich mit meinen deutschen Texten im Ausland keine Chance habe. Aber es wäre lächerlich, wenn ich deswegen versuchen würde, mir aus dem Wörterbuch schön klingende englische Phrasen zusammenzusuchen, die keinen Sinn ergeben. Ich bin nun mal in Deutschland geboren und aufgewachsen und kann das, was ich sagen will, am besten in meiner Sprache ausdrücken."

Wohl war, wie ein Zitat aus dem Titelsong des neuen Albums belegt: "Ich kann nicht wie ich möchte/ und ich mag nicht wie ich kann/ die Kinder sprechen sächsisch/ und mein Boxer knurrt mich an/ Was das Leben betrifft sind wir alle Amateure/ blutige Laien, Anfänger/ doch du hast die Wahl der Qual/ wenn auch nur das eine Mal:/ Draufgeher oder Draufgänger."

Heinz Rudolf Kunze hat sich für die zweite Alternative entschieden. Auch wenn er zu fortgeschrittener Stunde und bei der dritten Flasche italienischen Rotweins, Valpolicella, Jahrgang 1982, bekennt: "Ich habe ein Haus, eine Frau, zwei Kinder und demnächst eine riesige dänische Dogge. Ich lebe eigentlich recht friedlich und bürgerlich. Aber ich denke, ich komme damit ganz gut klar, was ja nicht immer einfach ist. Den Draufgänger lebe ich nur in der Musik aus."

Im gleichnamigen Song, einer harten, aggressiven Rocknummer übrigens, singt Kunze: "Kein bißchen feste Bindung/ an Eigentum und Gott/ denn Gegenwind macht Flügel/ mein Idol ist Don Quixote." Als wir das hören, schmunzelt er verschmitzt: "Das stimmt nicht. Schließlich hab' ich Bindungen. Und auch Eigentum. Das bringt dieser Beruf mit sich."

Hat er Bindungen auch an Gott? Er überlegt, antwortet vorsichtig: "Da ist schon was dran. Ich habe ja Germanistik und Philosophie studiert und mich dann ernsthaft mit dem Gedanken getragen, noch ein Theologiestudium dranzuhängen. Aber zum Glück war der Reiz der Musik schließlich doch stärker."

Mittlerweile hören wir das neue Album zum zweitenmal. Kunze ist unverholen stolz, auf sein jüngstes Geisteskind und lauert gespannt auf Reaktion. Er sitzt auf dem Boden. Manchmal rutscht er unruhig hin und her, als könne er es nicht erwarten, bis das nächste heiße Gitarrensolo kommt: "Hör dir das an, da hat sich Heiner Lürig, mein langjähriger Freund und Gegenpol, mal wieder selbst übertroffen."

Viele der neuen Songs sind härter und schroffer als alles, was man von Kunze bisher kannte. Bisweilen drängt sich der Verdacht auf, die Tatsache, daß Scorpions-Sänger Klaus Meine im Haus gegenüber wohnt, habe sich auf diese Musik ausgewirkt. Zelebriert Brille jetzt endgültig sein Coming-Out als harter Rocker und Draufgänger?

"Wer das letzte Album Brille gehört hat, konnte schon vor zwei Jahren das Coming-Out erkennen. Man könnte sagen, mit der neuen Platte ist es abgeschlossen. Sie ist noch kompromißloser. Jetzt geht es mir richtig gut."

Heinz ist Cool (Foto von Alfred Steffen)
 
CD-Discographie

1981 Reine Nervensache
ZoundsFaktor: 5 – brauchbar

1982 Eine Form von Gewalt
ZoundsFaktor: 8 – vortrefflich

1983 Der schwere Mut
ZoundsFaktor: 7 – erfreulich

1984 Ausnahmezustand
ZoundsFaktor: 9 – herausragend

1984 Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde
ZoundsFaktor: 5 – brauchbar

1985 Dein ist mein ganzes Herz
ZoundsFaktor: 8 – vortrefflich

1986 Wunderkinder
ZoundsFaktor: 7 – erfreulich

1987 Deutsche singen bei der Arbeit – live
ZoundsFaktor: 8 – vortrefflich

1988 Einer für alle
ZoundsFaktor: 6 – gelungen

1989 Gute Unterhaltung
ZoundsFaktor: 7 – erfreulich

1991 Brille
ZoundsFaktor: 8 – vortrefflich

1991 Sternzeichen Sündenbock
ZoundsFaktor: 5 – brauchbar

1992 Draufgänger
ZoundsFaktor: 9 – herausragend

Da drängt sich die Frage auf, ob es ihm vorher nicht so gut ging. Er holt tief Luft. "Nach Brille hatte ich tatsächlich einige Probleme. Da war plötzlich ein Punkt in meinem Leben erreicht, an dem ich mich fragte, was eigentlich noch kommen könnte. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Aber dann habe ich mit dem neuen Album angefangen und gemerkt, daß ich noch lange nicht am Ende bin."

Nein, jetzt geht's erst richtig los. Kunze hat mehr Drive denn je. Schon zum Abendspaziergang irgendwo am Mittellandkanal hat er sich entsprechend in Schale geworfen: schwarze Lederjacke, schwarze Spitzstiefel mit Beschlägen, Motörhead-T-Shirt und, das muß sein, schwarze Sonnenbrille. Peter Maffey wäre stolz auf ihn. Sein Lieblingskandidat für die erste Single heißt Leck mich doch. Zitat: "Kurz vorm Ende der Welt/ ist erlaubt was gefällt/ und ich mag wie du riechst/ wenn du über mich kriechst". Vermutlich wird kein Discjockey es wagen, dieses Stück im Radio zu spielen, meint der Künstler halb feixend, halb bedauernd, und deshalb hat er sich mit seiner Plattenfirma auf einen Kompromiß geeinigt. Jetzt gibt's als erste Single das weitgehend konsensfähige und äußerst angenehme Stück Finderlohn.

Und schon macht sich Kunze Gedanken über die nächste Tournee, die im Januar 1993 starten soll: "Im Süden haben wir's manchmal immer noch schwer." In den neuen Bundesländern hingegen gehört er mit seiner Band zu den gerngesehenen Gästen aus dem Westen.

Das war schon vor dem Fall der Mauer so. 1989 beispielsweise trat er zusammen mit Bryan Adams und anderen in Ostberlin beim großen FDJ-Festival auf. Der allgemeinen Verteufelung des ehemaligen DDR-Systems mag er sich nach wie vor nicht anschließen. "Ich hatte den Eindruck, die FDJ-Leute, mit denen wir zu tun hatten, waren ehrlich bemüht, die schlimmen Verhältnisse zu verbessern. Ich habe damals auch mit Egon Krenz gesprochen, Er hatte Macht, und Macht verleitet immer zum Mißbrauch – aber ich habe ihn dennoch als einen intelligenten Gesprächspartner mit guten Absichten kennengelernt."

Im Song Verraten und verkauft setzt sich Kunze mit der deutschen Wende auseinander: "Der nahe wilde Osten/ geschändet bis aufs Blut/ erst lebenslänglich Zukunft/ dann pfänden wir die Wut/ Wir sind der freche Westen/ wir sind der Schaum der Welt/ ein leeres lautes Elend/ mit gut gelauntem Geld." Und wie er das meint, daran läßt er keinen Zweifel: "Ich halte es für eine Tragödie, daß der amerikanische Kapitalismus gesiegt hat und daß es keine Alternative mehr gibt. Reagan hat leider recht behalten, als er sagte, man müsse den Osten totrüsten."

So spricht einer, der sich seinen Kopf zum Denken bewahrt hat. Der, wenn's sein muß, auch mal die philosophischen Werke von Ernst Jünger liest, schon "um selbst nachzuprüfen, ob die Grünen recht haben, wenn sie ihn als rechten Vordenker der Nazis ablehnen. Sie haben nicht recht."

Jetzt reden wir doch wieder über Literatur, und das muß auch so sein, denn rechtzeitig zur Platte erscheint im Bonner Bouvier Verlag Ende August auch das neue Buch von Heinz Rudolf Kunze. Es heißt Mücken und Elefanten und versammelt seine Lieder und Texte aus den Jahren 1986 bis 1991.

Doch bevor wir ins Literarische abdriften, holt der Rocker eine seiner Gitarren aus dem Kasten, um mitzuzupfen, während wir ein Stück von Edgar Broughton hören. Dann legt er die Gitarre beiseite und reibt sich die Augen. Es ist weit nach Mitternacht. Jetzt geht's auch ohne Brille.

 

Manfred Gillig, Zounds, September 1992

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