Titelbild des Albums "Draufgänger"

1992

Spätheimkehrer

Heinz Rudolf Kunze empfängt Fragen- und Fragensteller gern in seinem Studio in Hannover. Das zweistöckige Gebäude steht im Innenhof eines Wohnblocks: unten Übungs- und Aufnahmeraum, oben ein spartanisches Arbeitszimmer mit Flügel und Couch, draußen eine Sandkiste und Kinderspielzeug. Kunze fühlt sich offenkundig wohl in dieser bürgerlichen Umgebung. Der Cover-Entwurf für das neue Album "Draufgänger" liegt noch auf dem Klavier, und es ist Kunze und seinem Gitarristen Heiner Lürig anzumerken, wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit sind.

Draufgänger ist das vorläufige Ende einer langen Entwicklung. Draufgänger ist Rockmusik. Nach diesem Album wird niemand mehr Kunze zuallererst einen "Kopfmenschen" nennen. Niemand wird ihn mehr als "Schlagersänger" titulieren. Und keiner wird ihn als "Oberlehrer" bezeichnen. Heinz Rudolf Kunze hat sich seinen privaten Traum vom Rock'n'Roll erfüllt, ohne sich selbst verleugnen zu müssen. Eine Art von später Heimkehr.

Vor einigen Jahren noch wollte Kunze "ein deutscher Elton John" werden. So absurd war der Wunsch nicht: In der Folge des Hits Dein ist mein ganzes Herz erreichte der Liedermacher verblüffende Popularität. An Elton John denkt er heute nicht mehr. "Das habe ich wohl gesagt. Heute sehe ich es nicht mehr. Für das neue Album habe ich das Klavier gar nicht mehr angerührt. Heute sind Neil Young und Lou Reed meine Leitfiguren. Oder die neuen Gitarrensachen aus Seattle: NIRVANA, SOUNDGARDEN, PEARL JAM."

Dereinst wird ihn vielleicht Neil Young in seinem Bemühen um Rockmusik mit sinnvollen deutschen Texten bestärken. Neil Young, den er in einem Song wie Verraten und verkauft vorsichtig zitiert. "Daß ich Einflüsse offen zugebe", sagt Kunze gewohnt scharf, präzise und nur scheinbar uneitel, "hat mir oft Vorwürfe eingebracht. Viele Künstler tun so, als hätten sie die Musik neu erfunden – und klauen immer bei demselben. Ich klaue wenigstens bei vielen." Bei Randy Newman, dem Übervater und unerreichbaren Lehrer aller Songwriter, klaut Kunze nicht mehr – obwohl er vor fast zehn Jahren den noch immer gescheitesten Essay über ihn verfaßte. "Ich sah die Ähnlichkeit mit Newman immer in einem einzigen Aspekt, nämlich darin, daß ich ähnlich gallige, bittere Texte schrieb. Und daß ich früher in der Tat häufig am Klavier saß. Newman hat zwei Standbeine: einmal das Ragtime-artige aus den Dixie-Staaten und zum anderen Gustav Mahler und die Spätromantik. Beide waren für mich niemals musikalische Quellen. Die Gemeinsamkeit lag in der textlichen Haltung – und das gilt noch immer manchmal. Aber das ist die einzige Parallele. Und daß wir beide eine Brille tragen."

Heinz Rudolf Kunze am Mischpult in seinem StudioBei Draufgänger fallen Kunze und seine Band nur selten in den bisweilen schlagerseligen Schunkelrock vergangener Platten zurück. Held der Arbeit, ein munter-bößartiges Maschinen-Groove-Stück mit metallischem Sprechgesang, ist Kunzes gewagtester und gelungenster Song seit langem. Heiner Lürig klatscht amüsiert Beifall. "Das hat er besonders gut gesungen." Kunze stimmt fröhlich ein "Neger-Heinz! Ich habe den Funk entdeckt." Lürig lobt: "Die Funk-Gitarre hat Heinz gespielt. Funky Heinz. Er hat alle Funk-Gitarren auf dem Album selbst gespielt." Davon gibt es einige in den besten Liedern: Der einzige ehrliche Mensch auf der Welt, Leck mich doch, Geräusche aus deinem Mund. Für die Erläuterung von Held der Arbeit holt Tanz-Heinz weit aus: "Ich stellte mir dazu immer eine filmische Situation vor: Ein zynischer West-DJ mit Mobil-Disco fährt nach Chemnitz auf den Marktplatz und fordert die Ossis, die nichts zu lachen haben, zum Tanzen auf. Unter barbarischer Unkenntnis der dortigen Lage und barbarischer Nicht-Berücksichtigung der dortigen Gefühle. Insofern war die Musik klar. Der Anlaß zu dem Lied war ein Geschenk von einem Fan aus dem Osten: eine kleine Fibel, die jeder angehende NVA-Rekrut bekam. Darin standen martialische Sätze, die ich zum Teil als Collage verarbeitet habe. Originalzitat: "Disziplin ist mehr als Drill/ Zuerst 'Ich muß!' und dann 'Ich will!'. Solche maoistischen Formeln, die der Staatsverteidiger abends im Etagenbett lesen mußte."

Kunze can dance – und man kann tanzen dazu, wenn man das Groteske mag. Der ein bißchen kauzige, aber grundsympathische Brillenträger, der früher mild zerknirscht von seiner "ja etwas zerknautschten Visage" sprach und manchmal Mitleid erregte, begreift sich heute unbekümmert als Entertainer: "Ich möchte den Begriff 'Unterhaltung' eigenwillig mit Inhalt füllen und nicht den Deppen überlassen. Unterhaltung wird hier doch immer sehr schäbig mit Inhalt gefüllt. Von der Bühne herab die Menschen zu belehren, ist sehr müßig und peinlich." Andererseits findet Kunze es "sehr merkwürdig, daß man oft in eine Verteidigungsposition gerät, wenn man mit einem Lied etwas will". Früher sang er für Die Grünen, heute ist sein Engagement weniger plakativ. "Ich denke nicht, daß ein Anliegen sich in Benefizen erschöpft. Etwas wollen sollte man mit der Arbeit selbst. Einen gewissen Benefiz-Ekel gibt es natürlich auch bei uns. Ich bin sehr zögernd dabei geworden, meinen Namen unter ein Banner zu setzen. Innerhalb meiner Arbeit habe ich genug vor."

Kunze zögert indes nicht, an einschlägigen Fernsehsendungen teilzunehmen: Bei der Kinderei "Dingsda" riet er kenntnisreiche Begriffe, bei der Geronten Bildungsschau "Der große Preis" stellte er die neue Single Finderlohn vor. "Bei 'Dingsda' mitzumachen macht Spaß. Diese Art von Quiz-Sendung gehört zu den weniger peinlichen. Es ist eine Möglichkeit, sich in den Medien in einer etwas anderen Rolle zu zeigen. Man sollte den Leuten beweisen, daß man noch anderes im Kopf hat, als die paar eigenen Lieder. Und Fritz Egner ist ein bemühter und charmanter Gastgeber, ein angenehmer Mensch. 'Der große Preis': Naja, gut – wenn man die Möglichkeit bekommt, in einer Hauptabendsendung zu premieren, dann schlägt man die nicht unbedingt aus, Der Moderator müßte schon ein exemplarisches Arschloch sein. Das ist Thoelke nicht."

Heinz und sein "Draufgänger"Der "Hitparade" verweigert sich Kunze allerdings: Seine Toleranz hat Grenzen. Welche Musik hört Heinz Rudolf Kunze, der zu Recht als Kenner der Avantgarde gilt? "MY BLOODY VALENTINE. Wenn es überhaupt noch etwas Neues geben kann in dieser breitgetretenen Form von Rockmusik, ein Spiel mit Bausteinen. Selbstverständlich begrüße ich den Aufstieg von NIRVANA. Denn mit einer so groben, heftigen und leidenschaftlichen Musik Erfolg zu haben, ist ja sonst gar nicht mehr möglich. Oder PALE SAINTS, PAVEMENT, nach wie vor THE FALL, DINOSAUR JR., PIXIES, SONIC YOUTH." Zweifellos könnte Kunze adhoc Kurzfassungen von Rezensionen vortragen, die er seit dem letzten Jahr für die "FAZ" verfaßt. Oder Arbeiten aus seinem dritten Buch, das Miniaturen, Gedichte und Songtexte versammelt. Stattdessen antwortet er auf die Frage, ob er es jemals bereut habe, nicht Lehrer geworden zu sein: "Ich habe es nicht einen Moment bedauert."

Als er im Innenhof als Rockmusiker posieren muß, da rufen zwei Kinder aus einem Fenster des Mietshauses seinen Namen. "Kriegen wir ein Autogramm?" Kunze steht in der Sandkiste und ruft lächelnd zurück: "Dafür müßt ihr schon runterkommen!"

Über Randy Newman schrieb er damals: "Er ist eine der kostbaren Gestalten, die den Eindruck vermitteln, daß der Sinn des Lebens nicht irgendwo hinter diesem liegt, sondern in ihm." Wir bedanken uns bei Heinz Rudolf Kunze.

Arne Willander, RockWorld, September 1992

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