Brille

Hoppla, jetzt legt der Kunze aber richtig los: Schon der erste Titel – Die Verschwörung der Idioten – läßt keinen Zweifel daran, daß Heinz Rudolf Kunze sein Rock 'n' Roll-Handwerk aus dem Effeff beherrscht. So klar und kompromißlos hörte man ihn bisher noch nie; packende Gitarrenriffs gehen Hand in Hand mit schrägen Jahrmarkts-Keyboards, die aus seiner Verehrung für die frühen Werke von Roxy Music kein Hehl machen. Selbst seine Stimme scheint jetzt mehr Biß, mehr Aggression zu haben. Wer den Mann mit Brille noch immer leicht abfällig einen intellektuellen Rock-Oberlehrer nennen möchte, der sollte sich lieber gleich in die Luxus-Müsli-Ecke zu Niedecken und Grönemeyer trollen. Dorthin stellt Kunze kaltlächelnd die kultivierten Kollegen, wenn er beispielsweise mit hartem Getrommel seinen wilden Kriegstanz zelebriert, der gerade jetzt traurige Aktualität erlangt. Und dann soll bloß noch mal jemand behaupten, die deutsche Sprache vertrüge sich nicht mit richtiger Rockmusik: Kunze hat's mittlerweile auch in dieser Beziehung zur Meisterschaft gebracht – in den neuen Songs gibt es eine ganze Reihe von Formulierungen, zu denen man ihn nur beglückwünschen kann. Und schließlich seien auch alle beruhigt, die jetzt befürchten, Kunze verzichte auf musikalische Zwischentöne: Er versteht sich noch immer bestens auf gefühlvolle Balladen wie den autobiographisch angehauchten und daher schön nostalgisch klingenden Titelsong; Alles gelogen bringt trügerische Schlager-Seligkeit auf den wunden Punkt, und zum Schluß erlaubt er sich sogar einen Abstecher ins Folk-Terrain. Machen wir's kurz: So gut war Kunze noch nie; mit Brille hat er sich seinen Platz an der Speerspitze deutscher Rockmusiker gesichert, auch wenn er in der zweiten Hälfte gelegentlich ein wenig nachläßt.

Sehr Gut