der wille zur brille
Seit Jahren beweist Heinz Rudolf Kunze, daß Rock auch mit intellektueller Brille Biß haben kann. ME/Sounds-Redakteur Manfred Gillig besuchte den literarischen Rockmusiker zur Hörsitzung.
Seiner Heimatstadt Osnabrück hat Heinz Rudolf Kunze schon lange den Rücken gekehrt. Er ist aufs Land gezogen, in die Umgebung von Hannover. Dort lebt er jetzt angenehm ruhig und idyllisch. Ein paar Häuser weiter wohnt Klaus Meine von den Scorpions, und die Musiker seiner Band haben sich ebenfalls in Hannover niedergelassen.
Heinz Rudolfs Häusle hat oben viel Platz für Frau und Kinder und den Hund. Der Keller aber gehört dem Künstler: Da hat er sein Reich eingerichtet, komplett mit schwarzem Konzertflügel und Ergometer für die körperliche Ertüchtigung. An der Wand hängt die Goldene Schallplatte für Dein ist mein ganzes Herz, und ansonsten sind die Wände ziemlich dicht zugestellt mit Regalen. Kunze ist wahrscheinlich der einzige deutsche Rockmusiker, der weitaus mehr Bücher zuhause hat als Schallplatten. Und die liest er auch noch leidenschaftlich gerne: Schon auf der Fahrt vom Flughafen hat er davon erzählt, daß er gerade Friedrich Nietzsche studiert. Und im Gespräch fällt auf: Während sich andere Musiker – auch deutsche – eher an Rollenmodellen aus der amerikanischen Literatur orientieren, betont Kunze seine Affinität zu deutschen Klassikern. "Charles Bukowski hat mich nie interessiert. Ich finde Nietzsche nach wie vor spannender."
In der Tagesschau wird ein neuer Hoffnungsträger der SPD gekürt. "Mein Freund Björn", sagt Heinz Rudolf, "ist ein fabelhafter Mensch. Er kommt immer zu meinen Konzerten." Für Engholm will Kunze jederzeit auch auf Wahlkampf-Tournee ziehen. Mit Oskar Lafontaine hatte er in dieser Hinsicht nämlich gewisse Probleme. Kunze entspricht nicht dem landläufigen Klischee vom Rockmusiker. Das hat es ihm nicht immer leicht gemacht, und das nährt auch heute noch längst überholte Vorurteile. "Dieses unselige Wort vom 'Oberlehrer des Rock' wird mir wahrscheinlich noch in zehn Jahren nachgehen, obwohl ich mich längst von allen Attitüden, die es früher vielleicht mal rechtfertigten, freigemacht habe." Und zur Bekräftigung spielt Kunze sein neues Album vor, das er im Wisseloord-Studio im holländischen Hilversum aufgenommen hat. Da fegt plötzlich ein Wirbelsturm aus den Boxen, als hätte Kunze seinen Nachbarn Meine mitsamt dessen Kumpels als Begleitmusiker ins Studio eingeladen.
Was sich bisher vor allem in den Live-Konzerten zeigte, wird jetzt auch auf Platte offenkundig: Kunzes Herz schlägt für den Rock'n'Roll. Sogar seine Stimme wirkt jetzt härter, seine Phrasierung klarer. Daß er das Album ausgerechnet BRILLE nennt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Im stark autobiographisch geprägten Titelsong läßt er raus, was er mit dieser Brillenträger-Existenz verbindet. Er hatte es in seiner Kindheit sicher nicht immer leicht.
Der Gastgeber holt die nächste Flasche Wein – einen edlen Roten aus Frankreich, Marke St. Estèphe, Jahrgang 1986. Dann legt er nach der Hörsitzung mit BRILLE seine Lieblingsplatten auf. Und siehe da: Heinz Rudolf Kunze entpuppt sich als langjähriger treuer Verehrer von Roxy Music. Kein Wunder, daß die Keyboards auf dem neuen Album – beispielsweise im starken Opener "Kreuzzug der Idioten" – bisweilen so schräg klingen wie in den Glanzzeiten von Roxy Music in den 70er Jahren. Heinz Rudolf spielt den Discjockey mit Leidenschaft und unerschöpflicher Repertoire-Kenntnis. Und so verfliegt die Zeit wie im Fluge, und schon ist es weit nach Mitternacht. Zeit zum Abschied. "Ich komm' noch schnell mit raus", meint der Gastgeber. "Ich muß noch mit dem Hund 'ne Runde drehen."
|