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1986

Herz, Schmerz und dies und das ...

Liedermacher Heinz Rudolf Kunze über seine Tournee: Deutschland-Impressionen eines Handlungsreisenden in Sachen Musik, begleitet von Mihaly Moldvay (Fotos)

Die Tour beginnt klassisch. Eine teuflische Erkältung sprengt mir schier den Kopf, meine Tasche quillt über von Medikamenten. Die ersten beiden Konzerte finden im freundlichen niedersächsischen Hinterland statt, aufgekratzt und feierlustig. Vielleicht mit ein bißchen zu viel Muskelspiel. Aber das renkt sich ein. Der Gig in Hamburg kommt als drittes Gastspiel etwas zu früh, wird aber trotzdem ein Erfolg. Im Tour-Bus sehen wir uns einen Video-Mitschnitt dieses Konzertes an und sind verblüfft. Die nüchterne Kameraführung beweist: Es war ein Triumph. Dennoch erstellen wir eine Mängelliste, die wir mit der Crew durchgehen. Ich begreife: Da die Hallen größer geworden sind, müssen auch manche meiner Gesten überlebensgroß ausfallen.

Schon am vierten Tag der Tour sitzen meine Kollegen mit ihren Instrumenten im Bus. Bassist Joshi sitzt mir gegenüber, Kopfhörer auf, und klinkt sich mit einem handlichen Synthesizer aus. Frau und Kind haben mich besucht, bin unausgeschlafen, habe schlechte Laune, verfluchtes Geklimper, denke ich, Musiker sind wie zwanghafte Kinder.

Nach fünf Tagen stellt sich das charakteristische Tour-Gefühl ein. Man reagiert auf die ständig wechselnden Umgebungen, indem man sie einfach wegblendet: Die Bühne wird zur verläßlichen Größe, zum einzigen Raum, der jeden Tag gleich aussieht. Wenn wir auf die Bühne gehen, betreten wir unser eigentliches Zuhause.

Ich habe zwei große blaue Flecken am rechten Oberschenkel. Das haben die dauernden Schläge mit dem Tambourine angerichtet. Göttingen war ausverkauft, das Publikum euphorisch. Es trug mich und nahm mir die Müdigkeit nach dem Hamburger Konzert aus den Knochen. Mein Song Dein ist mein ganzes Herz steht in den Charts ganz oben, der Live-Erfolg kommt dazu: Ich stehe im Moment neben mir, erlebe alles wie in einem Film.

Abends treffen wir in Bamberg ein. Im Hotel das tägliche Ritual: Schlüssel empfangen, Zimmerverteilung, kein Fernseher, allgemein Gemaule. Gitarrist Heiner steht vor seiner Zimmertür. Der Schlüssel paßt nicht. Heiner zetert und tobt, ruft nach der Dame von der Rezeption: "Ist Ihnen das nicht peinlich?" Sie betrachtet kühl den Schlüssel und läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. "Durchaus nicht", gibt sie zurück, "eher sollte Ihnen das peinlich sein: Der Schlüssel hier stammt aus dem Parkhotel Göttingen." Heiner schluckt, entschuldigt sich. Künstlerpech.

Ich entwickle allmählich die perverse Lust, beim Verlassen des Hotelzimmers nicht die Spur einer Anwesenheit zu hinterlassen. Ich kenne Schauergeschichten von Rockgruppen, die ihre Zimmer als Müllhalden zurücklassen. Ich "bewohne" eigentlich nur das Bett, der Koffer bleibt immer zugeklappt.

An den sogenannten Off-Tagen während der Tour haben wir abends frei – kein Termin, Pause. Immer gegen 20 Uhr kribbelt's. Das Vakuum wird vorm Fernseher ausgefüllt. Brav und ohne Orgien.

München. Während des ersten Klavieranschlags geht das Pedal kaputt. Reparatur-Roadie Holger hetzt herbei, nimmt es mit, telefoniert wegen eines Ersatzpedals in der Stadt herum, alles zwecklos. Als Pianist ohne Pedal macht man alle Höllen auf Erden durch. Ich erkläre den Leuten in der Halle meine Folter. Das Publikum ist verständig und feiert die Panne. Phantastisch. Ich mochte München schon immer. Endlich mag München auch mich.

Die Band wird langsam eifersüchtig, weil die Journalisten immer nur mit mir sprechen wollen. Verständlich. Die Presse ist mehr an meinen privaten Schnurren interessiert als an gemeinsamen Erlebnissen im Probenraum.

Köln. Ankunft im Alten Wartesaal 16 Uhr. Wir holen unsere Gitarren ab und hasten zum WDR. 16.30 Uhr. Um 17 Uhr ist die Probe beendet, zurück zum Wartesaal. Zwei Interviews in der Garderobe, dazwischen Soundcheck in der Halle. Beim WDR Live-Auftritt. Ein Ex-"Tagesthemen"-Moderator spricht den falschen Songtitel ins Mikro: "Mein ist dein ganzes Herz". Im Wartesaal noch ein Interview-Versuch, den wir aus Zeitmangel abbrechen müssen.

Umziehen, Atemnot, Übelkeit. Ich möchte nur noch heulen. Nach unserem letzten Konzert vor mehr als einem Jahr bekam ich hier vom "Express" die geiferndste und haßerfüllteste Kritik meiner ganzen Laufbahn. Eine Dame, deren Name mir entfallen ist, fand meine Musik miserabel, meine Texte platt und meine Existenz überhaupt unentschuldbar.

Um 20.50 Uhr stehen wir auf der Bühne, nach zweieinhalb Stunden ist es vorbei. 1400 völlig ausgerastete Kölner applaudieren mich wieder auf die Beine. Ein Radio-Mann vom Hessischen Rundfunk wartete im Lokal auf mich. Wir bestellen. Ich will das Interview schnell hinter mich bringen. Sein Cassettenrecorder ist kaputt. Er scheucht seine Assistentin durchs nächtliche Köln – vergebens. Ich habe in den letzten drei Monaten bestimmt mehr als 100 Interviews gegeben, und jedem dritten Kollegen passiert das. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

Im "Luxor" hänge ich hinterher noch ab. Small talk mit dem Kollegen Klaus Lage und dem Musikverleger und TV-Programm-Gestalter Manfred Schmidt. Schmidt hat viel für mich getan und will noch mehr für mich tun. Um 3 Uhr falle ich ins Bett. Ob ich mich noch ausgezogen habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war ich am nächsten Morgen wieder angezogen. Köln, du enge stinkende Baustelle, du wuselnde Nervenentzündung, ich liebe dich.

Bochum. Im "Novotel" wohnen wohl nur Tournee-Gruppen. Kunze, Roland Kaiser, Charlie Sexton, Paul Kuhn. Den Crack kenn ich schon. Der hat mich mal in einer österreichischen TV-Show mit seiner Big-Band begleitet. Die Mannschaft von Roland Kaiser ist überraschenderweise auch ganz nett. Ich fürchte mich ein bißchen vor dem Konzert, weil mir Köln noch in den Knochen steckt.

Auch unsere Crew hakt Köln als Triumph ab. Die Jungs haben für die Aufstellung unserer Lichttraverse einen Teil der Inneneinrichtung des Wartesaals eigenmächtig abgesägt. Das, so erzählen sie stolz, sei nicht mal Falco gelungen, der angesichts der Bühnenmaße schier verzweifelt sein soll. Ich bin beeindruckt und spendiere eine Flasche Southern Comfort.

Am anderen Tag gehen wir wegen der großen Nachfrage noch mal auf die Bühne – mittags. Gegen 20 Uhr steuern wir bei starkem Schneetreiben auf die Autobahn in Richtung Stuttgart. Eine Katastrophenreise zwischen Nacht und Traum beginnt. Auffahrunfälle, kurze Filmrisse und Schnee. Um 3.30 Uhr läßt unser Fahrer Ulf den Bus am Stadtrand von Stuttgart stehen. Bis hierher und nicht weiter. Die Straßen sind spiegelglatt.

Wir fahren mit Taxen durch die verschneite Stadt zum Hotel. Die Zimmer sind so häßlich, daß man sich erhängen möchte. Ich mache sofort die Augen zu und penne weg.

In diesem Bericht werden keine Orgien und Exzesse verschwiegen. Es gibt sie nicht. Groupies auch nicht mehr. Bei 42 Konzerten mit drei Off-Tagen wird Disziplin verlangt. Alkohol vertragen wir viel weniger als früher. Die Crew ist noch härter dran als wir. Bei dem Pensum und den Entfernungen gehen Ingo, Willi, Erich, Holger, Janne, Thomas und Bean hinterher auf dem Zahnfleisch. Sie müssen jeden Morgen lange vor uns aufstehen, ab 14 Uhr die Anlage aufbauen, nach 23 Uhr abbauen und dann oft noch weiterfahren. Auf Tour zu sein ist wie im Krieg, hat Bryan Ferry einmal gesagt. Ich weiß, was er meint.

Stuttgart. Während in München alles jubelte, ist der Konzertbericht in Stuttgart genauso beschissen wie das Hotel. Während in München der Band noch Lockerheit amerikanischer Studio-Profis bescheinigt wird, empfindet der schwäbisch Kollege unsere Musik als so steril wie die einer Big-Band, der der Swing fehlt. Wann endlich reißt dem Papier die Geduld?

Das darf einfach nicht wahr sein. Früher, als wir noch in den engen kalten Bauarbeiter-Kleinbussen unterwegs waren, hatten wir nie technische Pannen. 50 Kilometer vor Tübingen bricht unser großzügiger Reisebus zusammen. Fahrer und Tourleiter Ulf ist fertig mit den Nerven. Als wir spät in der Nacht nach dem Konzert ins Hotel kommen, hat er kein Zimmer. Mit der Gelassenheit eines Fakirs trollt er sich in ein anderes Haus. Nicht sein Tag heute.

St. Wendel. Eine solche Tournee ist immer auch eine Reise ins Eisgebirge des Wahnsinns. In der lokalen Sporthalle ist es fast so kalt wie draußen. Die Heizung funktioniert nicht. Die Band tobt. Der Soundcheck findet in Mantel und Schal statt, alle Instrumente sind verstimmt. Wir auch. Aber wenn wir absagen, werden die Leute mit Sicherheit mir die Schuld geben. Also spielen wir – in der Hoffnung, daß das Publikum die Halle schon heiß kriegt. Tatsächlich, die Saarländer tanzen sich warm. Bei mir machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Die Routine zwischen Hotel, Halle und Hotel wiegt von Tag zu Tag ein paar Gramm schwerer. Gestern ist die Raumfähre "Challenger" explodiert. Als ich wie jeden Abend meine Techniker als Bodenpersonal und meine Band als Besatzung vorstelle, wird mir die makabre Pointe erst in der Garderobe klar.

Mitten in die große Müdigkeit knallt eine Hochstimmungsnachricht. In Hannover, Lübeck und Bremen müssen wir wegen der großen Nachfrage in größere Hallen umziehen. Angesichts des miserablen deutschen Tour-Herbstes ein außergewöhnlicher Vorgang. Wir fühlen uns ein paar Minuten wie die Beatles. Das gibt Kraft. Und verdrängt die Müdigkeit, die nicht mehr weicht, egal wieviel man schläft.

Jede Tour hat mindestens einen Desaster-Tag. Mit dem findet sich jedes Team ab. Diesmal ist es in Hildesheim soweit. Nach dem dritten Lied fällt unser komplettes Licht aus. Die Sicherungen sind überlastet. Geistesgegenwärtig schaltet unser Lichtmann Thomas die Neonbeleuchtung im Saal an. Abbrechen oder weiterspielen? Ich beiße die Zähne zusammen und mache weiter. Erfahrungsgemäß bringt das Publikum für Zwangspausen wenig Verständnis auf. Die Leute reißen sich zusammen wie wir. Aber die Stimmung will nicht recht aufkommen. Gestern in Bielefeld war sie da. 1800 Euphoriker sorgten dafür, daß wir schwebten. Zum Dank dafür soll Bielefeld auf meiner nächsten Platte vorkommen.

Nach dem Konzert habe ich die passende Laune, um den örtlichen Saalvermieter zu schlachten. Am nächsten Tag ist unser Truck kaputt. Janne, der Fahrer, muß mit einer eitrigen Mandelentzündung ins Krankenhaus, die totenblasse und ausgemergelte Crew muß die ganze Anlage auf Miet-Lastwagen umladen. Ins Gästebuch des gleich an den Saal angrenzenden Hotels schreibe ich: "Leider wurde meine Konzert durch die mangelhafte elektrische Ausstattung nahezu ruiniert, aber immerhin hatte ich ein Bett in meinem Zimmer." Das ist eigentlich nicht mein Tonfall. Aber ich habe die Hoffnung, hier Hausverbot zu erhalten, um in Zukunft hier weder wohnen noch spielen zu müssen. Leider reißt die Wirtin das Blatt kommentarlos heraus ... Hildesheim, one of those days.

Lieber Besuch in der Garderobe in Wilhelmshaven, wo uns 3000 entfesselte Ostfriesen erwarten. Peter Behrens, der kleine melancholische Trommler von "Trio", ist ein guter alter Bekannter. Schwatz über alte Zeiten. Hinterher ein Ouzo-Absturz beim Griechen mit sanfter Landung. Das Teufelszeug macht einfach keine Kopfschmerzen.

Nach dem Konzert in Neuenhaus an der holländischen Grenze wird die Band auf eine Party von mild resignierten und wohlsituierten Enddreißigern eingeladen. Hauptsächlich Lehrer-Ehepaare, die an dem Gewicht ihrer Flachland-Provinz leiden. Zuerst haben wir die Befürchtung, nur vorgezeigt zu werden. Aber die Leute sind freundlich und legen auf unseren speziellen Wunsch eine Beatles-Platte nach der anderen auf. Alles ist perfekt eingerichtet, es riecht nach Ikea und Nicaragua-Komitee, ein Kleinwagen für die Fahrt zur Schule, ein Campingbus für die vierteljährlichen Fluchten an die Algarve. Das ist das Leben, aus dem ich getürmt bin.

Berlin. Ich bin mit meinen Nerven am Ende. Ein gutes Konzert, aber hinterher brösele ich zusammen. Will keinen meiner Berliner Freunde mehr sehen, flüchte ins Hotel. Dunkelheit, Stille. Meine Managerin Vivi und meine geschätzte Freundin Ulla Meinecke rufen an und wünschen behutsam eine gute Nacht. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich geantwortet habe.

Frauen an Bord? Besser nicht. Im Tour-Bus ist es wie auf einem Schiff. Mitreisende langweilen sich oder stören die Aktivisten. Frauen und Freundinnen der Band-Mitglieder haben deshalb auf den Strecken nichts zu suchen. Selbstverständlich besuchen sie uns, wenn wir in der Nähe sind – wir sind schließlich nicht im Trainingslager der Fußballnationalmannschaft. Sobald wir fahren und die Frauen hinter uns lassen, geht ein Gefühl der Erleichterung durch die Reihen. Nichts für ungut, Gila, Marion, Patrizia, Christane und Ingrid.

Letztes Konzert der Tour in der Hamburger Markthalle. Für mich ein Schauplatz, der aufgeladen ist mit überschwenglichen Emotionen. Alles Konzerte, die ich hier jemals gegeben habe, waren ausverkauft. Hier steht und tanzt mein Stammpublikum. Und der ganze Saal kennt jedes Wort auswendig, das ich singe. Hier könnte ich meinen Text vergessen, die Leute würden's schon richten. Segen der Technik: Ich habe ein Sendemikrofon und kann mich frei, ohne Kabel, bewegen. Nach fast drei Stunden ohne Pause bin ich ausgewrungen, aber selig. Am Schluß singen wir mit den Leuten im Saal a capella, eine Geste, zu der ich noch nie den Mut hatte. Das Publikum kommt auf die Bühne. Für einen Moment duftet es nach 1968, aber damals hatte ich noch kurze Hosen an.

Denkt was ihr wollt, unterstellt mir finsterste Absichten und Reichtsparteitagsgelüste. Ich bin kein Massendompteur. Dieser Abend war nicht kitschig in Hamburg. Es war einfach nur unglaublich schön.

Die Tour ist vorbei. Vorbei die Pannen, vorbei der Ärger: Ich werde mich an einen anderen Rhythmus gewöhnen müssen, bis es wieder kribbelt, bis wir wieder rollen.

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