Cover des Buches "Deutsche Wertarbeit"

1984

Zu neuen Ufern

So weit, so gut,
ein Vierteljahrhundert Mittelscheitel ist genug,
jetzt muß was passieren, Haare runter,
das gibt uns so was Angespanntes, Konzentriertes,
Wie-zum-Sprung-Geducktes, und der Kopf
kriegt frontal den neuen Wind mit,
der durchs Land weht.
Volles Programm. Auf,
laßt uns das SPIEGEL-Abo kündigen,
und endlich Nägel mit Köpfen, Heimtrainer,
ein Gemüsetag pro Woche, man sollte kaum für möglich halten,
wie gut Kohlrabi roh schmeckt, wenn man Fritten rot-weiß
nicht dürfen darf.
Wir sind jetzt angesagt, Kinder,
hilft alles nichts,
raus auf die Bühne, auch wenn
keiner klatscht, harte Zeiten, wer hat denn heute noch
Knete fürs Parkett und die in der Loge
lutschen sich eh bloß gegenseitig die Koksnasen aus.
Unbeirrbar machen wir nichtsdestotrotz Examen,
ach, wir wissen, wir werden um so viel mehr betrogen
als damals der Knirps, der wir waren,
mit seiner Glitzertüte voller Sachen,
deren bitteres Ende Zahnarzt hieß.
Und wir heiraten: diese fossiliensteife Bagatelle,
wir lästern uns Mut an, beschwichtigen
die Kommune in uns, schweigt, ihr Stimmen, nichts für ungut,
langer Atem in dicker Luft,
ohne ein sicheres Einkommen kommt doch bei alledem gar nichts heraus,
innen und außen, Hegel ahoi,
bis wir nicht mehr wissen, wo unser Kopf
in der Kostennutzenrechnung zu verbuchen ist.
Und nie lernt man aus. Schau einer an,
freuen sich die ergrauten Eltern, schon wieder kann der Kleine
neue Wörter: Steuerberater zum Beispiel,
mittelfristig, Korsika.
Die alternative Ehefrau
registriert eines Morgens ein unbedeutendes Beben im Bauch,
erinnert sich, daß sie schwanger ist,
entdeckt die roten Flecken auf dem Laken und
verschwindet drei Tage im Krankenhaus.
Wenn sie zurück ist, trinkt sie Sekt für den Kreislauf
und sagt beim Zigarettendrehen: Ich gründe eine Punk-Band
namens Fehlgeburt.
Und wir erinnern uns an bestimmte Lektüre,
Ortega y Gasset und unsere Entrüstung,
wie hieß es doch gleich: Kulturen gehen unter,
wenn ihre Weiber nicht mehr schmissig gebären.
Und wir nicken verständnisssinnig, o Logik des Zerfalls,
was sind wir reif geworden,
was sein muß, muß sein,
das muß jetzt ein für allemal vom Tisch,
Sein oder Nichtsein, die Füße, die du unter meinen Tisch steckst,
werden jetzt aufgegessen, sonst scheint die Sonne nicht.
Und wir erinnern uns,
daß wir Mephisto schon immer toller fanden als Faust,
und daß die höchste Blüte einer Kultur
sich nachweislich immer erst in denen zeigt,
in denen sie vergeht.

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