Cover des Buches "Papierkrieg"

1986

Manchmal überkommt es uns

Manchmal überkommt es uns.
Dann klemmen wir uns das Tonbandgerät unter den Arm
und belagern gute Freunde, die zwar eigentlich gar keine Zeit,
dafür aber all die alten Platten haben,
die wir vor Jahren in einem Anfall von Schwachsinn verkauften.
Mott The Hoople, All The Young Dudes –
die Dreistigkeit, mit der da David Bowie
einen Refrain von den Beatles geklaut hat,
erinnert uns augenzwinkernd an unser eigenes,
geborgtes Vorsichhinwursteln.
Wenn man sich umschaut, geht genaugenommen keiner von uns
einer Tätigkeit nach.
Keiner von uns kriegt das zustande,
was man eine normale bürgerliche Laufbahn nennt.
Wenn man im Familienkreis äußert, daß man arbeiten möchte,
nennen das unsere Väter Anspruchsdenken.
Wir haben noch viel zu lernen.
Manchmal überkommt es uns.
Dann preschen wir aus der Wohnung
und suchen in der Fußgängerzone einen greifbaren Feind.
Natürlich finden wir keinen, und die Passanten wirken
vollkommen bewegungslos, wie zurückgelassene Verwundete
eines überstürzten Rückzugs.
Müde torkeln wir heim zum Fernseher:
Heute gibts wieder ein Länderspiel,
und das ist seit langem die einzige Chance für uns,
Schlaf zu finden.
Der Hautausschlag geht auch nicht weg.
Sechs Wochen Südeuropa, rät der Arzt,
am besten Portugal. Wir grinsen
und drücken ihm einen Kaugummi auf den Kittel.
Da war doch was –
mit kleinen, rotgeränderten Augen sehen wir der Kreissäge zu,
die sich an unseren Kniekehlen zu schaffen macht.
Hoppla, wie ist denn die dahingekommen?
Wir müssen wohl doch mal kurz eingeschlafen sein.

Copyright & Datenschutz Heinz Rudolf Kunze Top