Cover des Buches "Deutsche Wertarbeit"

1984

Märchen

Es war einmal ein Junge,
der lebte in einem Land, das Deutschland hieß.
Deutschland lag ziemlich in der Mitte eines eher klein geratenen Kontinents, der seine beste Zeit schon lange hinter sich hatte und das auch allmählich einzusehen begann. Die Sonne schaffte es über Deutschland schon ewig nicht mehr, durch die Wolken zu dringen; manchmal war sie sich nicht mal sicher, ob das überhaupt noch Wolken waren oder schon eine Glocke aus Beton. Demzufolge wuchsen die Kinder in Deutschland bleich und lichtempfindlich auf und lernten als drittes Wort nach »Papa« und »Mama« das Wort Krebs. Eines Sommers aber kam es zu einem meteorologischen Großwetterzufall, den wir heutzutage ja nicht mehr dem Lieben Gott in die Schuhe schieben können, da dies nach dem neuesten Stand der theologischen Forschung keine Person ist, sondern etwas Abstraktes, das heißt allerhöchstens aus Papier. Wie dem auch sei, jedenfalls war plötzlich Sommer. Richtiger Sommer. Blauer Himmel, brüllende Hitze, das letzte noch lebende Grünzeug duftete so tapfer es konnte. Und der Junge, von dem am Anfang gesagt wurde, daß er einmal war, lief wochen-, ja monatelang jauchzend durch die Landschaft, kugelte kichernd Autobahnböschungen hinab, veralberte die Gegensprechanlagen der Vorstadt und hielt Gänseblümchen in die Lichtsperren der Fabriktore. Bei alledem hatte er so wenig an wie irgend möglich, und abends im Bett vor dem Einschlafen hörte er, wie seine Haut vor Sonnenbehagen leise knisterte. Versteht sich, daß es dann irgendwie irgendwann Herbst werden mußte und alles wieder so auszusehen begann wie sonst. Und hier erst beginnt eigentlich die kurze, schlimme Geschichte des Jungen. Er wollte das nämlich nicht einsehen. Er hatte den Sommer erlebt, und der sollte bleiben. Er befahl es ihm. Stampfte mit dem Fuß auf. Betete vor dem Einschlafen. Legte Gelübde ab. Aß immer seinen Teller leer. Nichts half. Da lächelte der Junge und verschluckte den Sommer, kurz bevor er endgültig verschwunden war. Die Tage vergingen, morgens hing muffiger Nebel über den Gewerbegebieten, und der Junge tollte noch immer in kurzen Hosen durch die Randbezirke. Wenn seine Mutter das bemerkte, wurde er natürlich ausgeschimpft und warm angezogen, gänsehäutig wie er war. Doch er lächelte nur, und jedesmal, wenn er auf dem Schulweg außer Sichtweite des Elternhauses geriet, zog er Handschuhe, Mantel, Hose und Jacke aus, stopfte alles in seinen Ranzen und lief davon in seinen Sommer. Schließlich fanden sie ihn, erfroren und friedlich. Und nach dem, was wir heute über diesen Gott aus Papier wissen, kann man nun ja nicht mal mehr sagen, daß der Alte beim besten Willen nicht weiß, wie er aus dieser Nummer wieder rauskommen soll.

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