Cover des Buches "Papierkrieg"

1986

Lieber Vater

Lieber Vater
Du hast es immer gut mit mir gemeint
hast mir verziehen, daß ich ein Schwächling war
(und man sah es Dir an, wie schwer Dir das fiel!),
weil ich fleißig lernte
und mit großem Erfolg.
Ich hatte alles, was ich wollte,
weil ich alles, was ich wollte,
wirklich brauchte.
Du hast es mir später hoch angerechnet,
daß ich nie etwas anderes als das Notwendige
von Dir verlangte.
Dabei wäre ich durch Deine Erziehung gar nicht fähig gewesen,
etwas anderes als das Notwendigste von Dir zu verlangen.
Es ist schwer, mit Dir zu sprechen.
Du hast so viel durchgemacht,
daß sich jeder mögliche Vorwurf, lange bevor er ausgesprochen wird,
im Kopf pulverisiert.
Und dabei werfe ich Dir gar nichts vor.
Du bist eitel und Du trinkst zuviel.
Dein Kopf wird schon bei Anlässen puterrot,
die weder Deiner noch irgend jemandes würdig sind.
Ich war zu Tode erschrocken, als ich zum erstenmal
bemerkte, daß Du ein Buch, das ich Dir empfohlen habe,
offenkundig nicht verstehst.
Du bist kein guter Mensch.
Du bist nur eine ehrliche Haut,
also ein guter Mensch.
Daß Du es gerne sähest,
daß die ganze Welt über Dich lachte,
wobei Du übersiehst,
daß Einzelne tatsächlich über Dich lachen,
rettet Dich
in meinen Augen.
Aber, lieber Vater,
ist Dir eigentlich klar,
was Du sagen würdest, wenn ich Dich jetzt,
um zwei Uhr nachts, anrufen würde, nur um Dir zu erzählen,
daß ich allein bin und zwar
völlig?

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