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Goethe. Gestern. Ganz plötzlich.
Wir gehen in einem Gebirge spazieren und sehen einen Mann, der über einem Abgrund hängt. Die Felsspalte ist schmal genug, daß sich der Mann mit der linken Hand links, mit der rechten Hand rechts festhalten kann. Sie ist andererseits aber auch breit genug, daß es dem Mann unmöglich ist, sich aus seiner entsetzlichen Lage zu retten und hochzuziehen. Wir treten näher. Der Mann ist Johann Wolfgang Goethe. Unschlüssig stehen wir über ihm. Goethe schreit nicht. Sagt keinen Ton. Strampelt nur, und schnauft. Wir überlegen: Greifen wir seine diesseitige Hand, so muß seine andere vom Festhalten ablassen, sonst zerreißt er – schon jetzt wirkt er sehr angespannt. Läßt er aber jenseits los, hängt er ganz von uns ab, und wir sind nicht sportlich. Goethe verliert beim Zappeln jede Menge Scripte, sie fallen ihm aus den Manteltaschen, vielleicht erleichtert ihn das, der Abgrund schluckt sie. Auf manchen erkennen wir, bevor sie ganz klein werden, Siegel und Aufschriften: Vor meinem Tode zu öffnen. Wie wunderlich: In unserer Mitte befindet sich einer, der behauptet, Faust Drei geschrieben zu haben. Oder fast fertig zu sein. Oder noch schreiben zu wollen. Er arbeitet schwerpunktmäßig in der Zahnpastawerbung. Ein heckenscherenartiger Ton holt uns aus unserer Nachdenklichkeit: Ein Hubschrauber senkt sich auf uns herab, rammelvoll mit nackten maskierten Gestalten. Eine Frau, eine schöne Frau mit Antilopenhörnern auf der Stirn, läßt sich an einer Strickleiter herab und küßt und kitzelt Goethes krallende Hände. Und so schnell wie sie kam, verschwindet die Horde. Goethe hängt immer noch da, und obwohl wir nicht völlig klar sehen: Die zitternden, krampfenden Finger sind aufdringlich wirklich. Wir würden recht gern mit ihm sprechen, wir haben es uns früher gelegentlich gewünscht, aber was soll man schon sagen in solch einem Augenblick. Goethe läßt los. Wir treten einen Schritt zurück. Er schreit nicht. Wir auch nicht. Es fängt an zu schneien.
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