Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Etwas länger

Für manche Dinge brauchte Kilian eben etwas länger.
Zum Beispiel hat er jahrelang geglaubt,
Tausende von Autos hätten alle den gleichen Lackschaden,
bis er bemerkte, daß dieser schwarze Fleck
die Umrisse der Insel Sylt markierte –
die jeweiligen Fahrer also alle den gleichen
Dachschaden haben.
Kilian lebt halt in der Provinz,
wo die Fernseher Polka tanzen
und abends die Vorurteile aus den Wiesen dampfen.
Auch den Tod von seinem Freund Max hat er lange nicht verstanden.
Max erlag einem Verkehrsunfall. Nicht etwas Aids,
einfach rechts vor links. Max war Fahrradfahrer,
ein fanatischer. Er hatte immer diese rote Kelle
am Gepäckträger, diese trotzige, Platz beanspruchende,
die aus jedem zweiten Wagenlenker einen provozierten
paranoiden Stier macht. Und er streckte beim Abbiegen
grundsätzlich nie seine Hand heraus. Max fand es uncool,
anzuzeigen, wo man hin will. Man deckt seine Karten
nicht vorzeitig auf, man hält sich alle Möglichkeiten offen,
so lange es irgend geht.
Und jetzt geht für Max eben gar nichts mehr. Bingo.
Maxens Vater war einer von diesen sabbernden,
fusselbärtigen 68ern, die jeden Sommer voller Neid
die Einladungen in die Ferienhäuser ihrer glattrasierten
Ex-Genossen ausschlagen und abends vor den Tagesthemen einnicken.
Daß da ein Zusammenhang war, wurde Kilian auch erst
im Schneckentempo deutlich.
Gestern hat er Besuch von einer Fee gehabt,
die seine drei Wünsche hören wollte.
Eigentlich hatte er keine.
Dann überlegte er, ob ihm an der Wiedergeburt von
Jimi Hendrix, einem Revival der Parkamode und einem
privaten Softeisautomaten gelegen wäre.
Aber schließlich hat er sich doch einundzwanzig Millionen Mark,
die sexuelle Potenz eines Büffels und das ewige Leben gewünscht.
Alles klar, sagte die Fee.
Für manche Dinge braucht Kilian eben etwas länger.
Aber dann.

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