Eine Stadt

Ich komme aus einer Stadt
die niemals von sich reden macht
sie taucht niemals in den Nachrichten auf
man sieht sie niemals im Fernsehen
hier wohnt niemand von öffentlichem Interesse
hier geschieht nichts Bemerkenswertes
es ist eine große Stadt
vielleicht die größte im ganzen Land
woher soll man das wissen
man erfährt ja nichts über ihre wahren Ausmaße
ich hatte viele Freunde in dieser Stadt
sie sind alle weggezogen
keiner hat diese Stadt jemals wieder besucht
oder jemals wieder etwas von sich hören lassen
es gibt viele Häuser in dieser Stadt
viele Straßen und Autos
die Menschen in dieser Stadt haben Arbeit
oder nicht
es gibt kein Nachtleben in dieser Stadt
aber um so mehr Nacht
man kann in dieser Stadt durchaus mitbekommen
was draußen in der Welt vor sich geht
Wochen- oder Monatszeitschriften kritischen Zuschnitts
sind vielerorts und in reicher Auswahl erhältlich
sie werden bevorzugt an bewölkten Sonntagnachmittagen gelesen
neben den aktuellen Artikeln
werden die Anzeigen für preiswerte Geigerzähler zur Kenntnis genommen
und die diesbezügliche Bestellscheine werden belustigt ausgefüllt
ohne freilich abgeschickt zu werden
die Jugendlichen in dieser Stadt
sitzen ratlos vor ihren überquellenden Plattenschränken
und können sich nicht entscheiden was sie hören wollen
und jedesmal wenn ihnen bewußt wird
daß sie schon seit Jahren keine Platten mehr gekauft haben
fällt ihnen auf daß sie ja auch schon einunddreißigeinhalb sind
und daß ihre kybernetisch interessierten Kinder
sie jedesmal unbarmherzig auslachen
wenn sie beim staubig knisternden Klang einer elektrischen Gitarre
zu einer rhythmisch zuckenden Bewegung der Zustimmung ansetzen
und wenn sie nach dem Haarewaschen in den Badezimmerspiegel schauen
erschrecken sie über diesen klebrigen zerzausten Meerestang
der sich da an ihrem Hinterkopf anklammert
um Gnade winselt
und vor dem Fön fürchtet
und irgendwie, denken sie,
hat das alles auch mit ihrer Stadt zu tun
aber sie wissen nicht wie