Cover des Buches "Papierkrieg"

1986

Besser hören

In der BUNTEN vom 15.11.1984 stieß ich auf Seite 192 auf ein Bild vom Kabinett Kohl samt vorletztem Bundespräsidenten. Darunter die Zeile:
ZWEI VON IHNEN SIND SCHWERHÖRIG, REIN STATISTISCH BETRACHTET. Wieder einmal wurde mir scherzhaft deutlich, wie dramatisch die Statistik der Wirklichkeit hinterherhinkt. Das Regierungsbild zeigt 18 Personen, 17 Männer und eine Frau. Aber darf man sich da sicher sein? Müßte es nicht vielmehr heißen: Acht von ihnen sind Männer, rein statistisch betrachtet? Apropos Männer: Bald besitzt mindestens einer von ihnen eine Herbert-Grönemeyer-LP, rein statistisch betrachtet. Wer wohl? Männer rauchen Pfeife, Männer lügen am Telefon ... da gibt's ja genug Identifikationsangebote.
Außerdem: einer von ihnen ist Türke, rein statistisch betrachtet. Na, Herr Zimmermann, da haben wir wohl nicht aufgepaßt? Oder sollte ich sagen: Zümmermann?
Aber lesen wir weiter:
HÖRGESCHÄDIGTE WERDEN VON IHRER UMGEBUNG IN DER REGEL ZIEMLICH UNFREUNDLICH BEHANDELT. NICHT GEZIELT UND NICHT BEWUSST, SONDERN GANZ SELBSTVERSTÄNDLICH UND BEILÄUFIG. MEISTENS FÄLLT ES NIEMANDEM AUF, AUSSER DEN BETROFFENEN NATÜRLICH.
Manchmal aber nicht mal denen, was, Kanzler?
ES IST DIES EIN VERHALTEN, WIE ES VIELE LEUTE ZU SPÜREN KRIEGEN, DIE DAS UNGLÜCK HABEN, MIT EINEM KÖRPERLICHEN ODER SEELISCHEN PROBLEM LEBEN ZU MÜSSEN.
Ich muß das jetzt hier wirklich mal einbringen: Ich finde es wahnsinnig positiv, in einem Staat leben zu dürfen, in dem sich auch solche Erniedrigten, Beleidigten, Blockierten, Verkannten und Verkanteten wie auf diesem Bild bis ganz nach oben boxen können. Ehrlich, Hans-Dietrich, toll du.
Wahrscheinlich habe ich mich bei dieser Spendenaffäre auch völlig verhört, ich sollte mich wohl mal untersuchen lassen. Vermutlich ging es nur um Blutspenden für euch, und der Brauchitsch ist ehrenamtlicher Berater der Aktion Sorgenkind. Der Text hier hat völlig recht:
EIGENTLICH IST ES NICHT ZU VERSTEHEN, WARUM GESUNDE MENSCHEN DAZU NEIGEN, EMOTIONAL UND KÖRPERLICH ZU KRANKEN AUF DISTANZ ZU GEHEN.
Ist es auch nicht! Geißler, Riesenhuber, laßt euch einfach fallen, völlig angstfrei, ich fang euch auf. Wenn ich das nämlich nicht tue, mache ich mich mitschuldig an der TIEFGREIFENDEN, JAHRELANGEN ISOLATION der Beklagenswerten. Kann man angesichts solch ergreifender Appelle, beim Anblick dieser treufeuchten Augenpaare noch länger an seiner Staatsverdrossenheit festhalten? Ein Hundsfott, wer's kann. Die Anzeige fährt fort:
DAMIT DIE GESCHÄDIGTEN IHR HÖRPROBLEM NICHT MEHR ALS EINE SOZIALE DISQUALIFIKATION ERLEBEN, IST ES NOTWENDIG, DASS WIR ENDLICH DAZU ÜBERGEHEN, SIE ALS GANZ NORMALE LEUTE ZU BEHANDELN.
Also gut, wenn's auch schwerfällt: Beim nächsten Raclette-Essen mit unseren arbeitslosen Junglehrerfreunden laden wir auch wieder mal den Stoltenberg und den Schwarz-Schilling ein, auch wenn die kleckern und es mit ihrem Tischsitten nicht sehr weit her ist. Schwerhörig? Wenn's um 'nen Nachschlag geht, hören die sogar das Gras wachsen. Man muß halt ein bißchen aufpassen, daß man den Stoltenberg nicht mit dem Eingemachten und den Silberlöffeln allein läßt und daß der Schwarz-Schilling nicht verdächtig lange auf dem Klo bleibt, sonst verkabelt der zwanghaft die Wasserspülung.
SO SCHWER SOLLTE UNS DAS IM GRUNDE GAR NICHT FALLEN ermuntert uns die Anzeige zum Schluß. Denn:
BRILLENTRÄGER AKZEPTIEREN SIE DOCH AUCH. VIELLEICHT SIND SIE JA SELBER EINER.
Stimmt. Ich sollte mir erst mal das Schmalz aus dem eigenen Ohr pulen, ehe ich in fremden herumstochere und entdecke, daß da zwischen Ohr und Ohr nichts ist. Und BUNTE-Leser muß ich ja auch akzeptieren. Schließlich war ich ja selber einer.

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