Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Zwischen Münchner Freiheit und Großer Freiheit

Immer auf die Kleinen,
blubberte Kilian in sein Fernsehbier.
Wenn einer aus Berlin kommt, oder aus München,
denkt da irgendjemand an die Schweinereien, die da gelaufen sind?
Nix da! Makellos hip, touristisch Tag und Nacht geöffnet,
Duft der großen weiten Welt.
Aber stell dir mal vor, du stammst aus Dachau!
Oder aus Stammheim! Kalkar! Wackersdorf!
In Bitburg sorgen Ronnie und Helmut dafür,
daß das Bier schal wird, und jetzt möchte man am
liebsten in seiner Geburtsurkunde den Namen Ramstein streichen.
Immer auf die Kleinen. Irgendwann wird Deutschland unbewohnbar sein,
jeder Dorfname schambeladen, jeder Landstrich schuldverschmiert
und alle 100 Meter am Straßenrand dieses Schilder-
mädchen mit dem Zeigefinger: Rechts ist richtig!
Luftaufnahmen zeigen nur noch einen trichterförmigen Strudel aus Peinlichkeit,
pausbäckige Politiker verschanzen sich
in ausbruchssicheren Bunkern, kontrollieren viertel-
stündlich ihren Blutdruck und meditieren unter Anleitung
afghanischer Gurus über die Bedeutung des Wortes "postmodern".
Immer auf die Kleinen,
blubberte Kilian verbissen in sein Fernsehbier.
Du wiederholst dich, biesterte seine Frau,
schaltete den türkischen Problemfilm aus
und dachte mit Wohlgefallen an ihren holprigen Doppelnamen.
Sei still, du! schrie Kilian mit urplötzlich armdicker Halsschlagader.
Eins sag ich dir: Du wirst nicht mein Vietnam! Du nicht!
Nach diesem Ausbruch sackte seine Stirn wieder
in den Abdruck zurück, den sie im Schaum seines
Maßkrugs hinterlassen hatte.
Du bist ungefähr so beeindruckend wie Zahnfleischbluten,
höhnte seine Frau. Danach verschwand sie wieder unterm
Kopfhörer und gab sich Tracy Chapman hin.
Und so nahm er seinen Lauf,
der deutsche Feierabend,
irgendwo zwischen Münchner Freiheit und Großer Freiheit.

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