Cover des Buches "Heimatfront"

1997

Regungslos reisen

Es kam so, daß sie niesen mußte. Und ihm flog seine
wollene Rap-Mütze vom Kopf, ihr gegen die Kniekehlen –
ja, der Wind. Beide drehten sich an den einander
gegenüberliegenden Rändern des Kaufhauses um, von
denen sie sich in die Tiefe stürzen wollten. Beide hatten
nicht zur Kenntnis genommen, daß noch jemand da war –
so waren sie in Anspruch genommen gewesen von ihren
Vorbereitungen auf den Freitod.
Ohne Umschweife gingen sie aufeinander zu.
Dann standen sie in der Mitte des Parkdecks, beinah
Gesicht an Gesicht.
Ich bin Haushaltshilfe, sagte sie. Mein Lebensgefährte
macht irgendwas mit Software, das reicht durchaus, aber
man will ja auch was Eigenes haben. Aber jedesmal wenn
einer meiner Arbeitgeber Geburtstag hat, werde ich
gekündigt. Nicht gleich, aber kurz darauf. Dabei meine
ich es doch nur gut. Ich schenke gern. Der Hausfrau oder
dem »Herrn des Hauses«, wie man früher sagte. Aber
niemals, buchstäblich niemals, treffe ich den Geschmack
der Leute! Meine Geschenke werden verlegen
entgegengenommen, noch eine Woche lang wird
heuchlerisch ihr Wert beteuert, dann werden sie so
lieblos versteckt, daß ich sie beim Aufräumen geradezu
zwangsläufig wiederfinde. Sobald die Herrschaften mein
enttäuschtes Gesicht sehen, trennen sie sich von mir.
Und noch nie konnte ich ihnen zuvorkommen, voller Stolz
den Kram hinschmeißen, hocherhobenen Hauptes
davonrauschen. Das hätte ich von meiner Mutter, sagt
mein Lebensgefährte.
Ich hingegen, sagte ihr Gegenüber, bin Fernseh-
Talkmaster, sehen Sie, daher kennen Sie mich. Sie
werden mir recht geben, daß ich sehr bekannt bin,
manche würden sagen: berühmt, sogar weit über die
Grenzen unseres Landes hinaus. Ich darf mit Fug und
Recht behaupten, daß ich ein alter Hase bin. Die
Prominenten, die ich noch nicht befragt habe –
Eintagsfliegen, Laufkundschaft der Gefälligkeit habe ich
nie ernst genommen, für mich zählen nur Menschen, die
deutliche Spuren hinterlassen – kann man an zehn, ja
vielleicht fünf Fingern abzählen. Aber in all den Jahren,
Jahrzehnten mittlerweile, die ich regelmäßig, kaum je
von Krankheit gehindert, verläßlich wie die Wetterkarte
über die Bildschirme flimmere, ist noch nie jemand auf
die Idee gekommen, mich in seine Sendung einzuladen –
ein Verfahren, das doch wahrlich an Üblichkeit nicht zu
überbieten wäre, Fernsehen, das wissen Sie als
Verbraucherin doch genausogut wie ich, ist doch ein
ausgeklügeltes Geschacher von Geben und Nehmen,
wechselseitigem Händewaschen, Wie-Du-mir-so-ich-Dir!
Dabei habe ich meine Gäste samt und sonders mit
ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Meine Fairneß, mein
Taktgefühl beim Zwiegespräch sind sprichwörtlich.
Selbst mein bisweilen bizarrer Lebenswandel wurde nie
dergestalt öffentlich in den Schmutz gezogen, daß mein
Image tennisschiedsrichterhafter Besonnenheit je
angekratzt worden wäre! Niemand, buchstäblich
niemand scheint daran interessiert zu sein, mir Fragen
zu stellen, scheint neugierig auf meine Antworten!
Können Sie sich das vorstellen?
Ja, das heißt: nein, sagte sie leise. Lassen Sie uns
irgendwohin gehen, ich höre Ihnen zu.
Beide gingen engumschlungen nach Hause, wie jeden
Freitagabend.

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