Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Nietzsche als Schenkender

Niemals verschenkte Nietzsche etwas, ohne sich genau zu merken, was es war. Niemals vergaß er, Jahre später den Beschenkten zu fragen, ob er noch immer im Besitz des Geschenkes sei. Oft genug kam es vor, daß dieser das verlegen verneinen mußte, weil er das Geschenk inzwischen weiterverschenkt hatte, was ihm im Grunde gar nicht zu verübeln war, weil Nietzsche das Geschenk ganz bewußt derart lieblos ausgewählt hatte, daß es dem Beschenkten beim besten Willen nichts bedeuten konnte und die Verführung groß war, sich bei nächstbester Gelegenheit seiner zu entledigen. War dies geschehen, so kam unweigerlich der Zeitpunkt, wo dem Beschenkten Nietzsche gegenüber nichts anderes übrigblieb, als eben dieses einzugestehen. Immer beeilte sich daraufhin Nietzsche, aufbrausend zu verzeihen, und er liebte den Betreffenden glühend und ausdauernd bis an sein Lebensende. Niemals aber ertrug er es, in dieser Angelegenheit angelogen zu werden, er ging so weit, in Abwesenheit des Beschenkten dessen Habseligkeiten gründlich – und ohne jemals Spuren zu hinterlassen – zu durchsuchen. Jede diesbezügliche Ausflucht durchschaute er mit untrüglicher Kälte und jeden auf diese Weise seine Erwartungen Enttäuschenden (oder eigentlich doch in einem tieferen Sinne Erfüllenden) überzog er mit unerschöpflichem, erbarmungslosem Haß.
Menschen hingegen, die wahrheitsgemäß und geradeheraus angaben, selbstverständlich sei das Geschenk noch vorhanden, ja es nehme einen Ehrenplatz in ihrem Leben ein und wie er so etwas überhaupt fragen könne, ließen ihn vollkommen kalt.

(eine Legende)

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