Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Nicht nötig gewesen

Wenn ich so zurückdenke:
Die haben sich immer unheimlich Mühe gegeben,
meine Freiheit zu sichern.
1956, als ich geboren wurde, haben sie gleich
die kommunistische Partei verboten und die
Bundeswehr gegründet.
Das wär doch wirklich nicht nötig gewesen.
Eine glückliche Kindheit in gesicherter Freiheit.
Als ich drei war, stand ich an Vaters Hand auf dem
Bahnsteig und sah Konrad Adenauer vorbeifahren,
den gütigen Greis im Sonderzug.
Der wußte, wo es lang ging. Der wußte, meine Freiheit
war nur sicher, wenn er die Wiedervereinigung
Deutschlands verhinderte. Schulterschluß mit dem
westlichen Bündnis, brüllte sein Beraterstab im Chor.
Die waren schwer auf Zack, schon immer gewesen,
auch vor Fünfundvierzig.
Man stelle sich das einmal vor:
Nur damit meine Freiheit sicher war,
mußte Deutschland geteilt werden.
Das wär doch wirklich nicht nötig gewesen.
Als ich zur Schule ging, wurden die Notstandsgesetze gemacht.
Endlich war klar geregelt, wann die Bundeswehr
auf Arbeiter schießen darf, falls die auf die Idee kommen sollten,
Flick seine Milliarden und mir meine Fußballbildersammlung wegzunehmen.
Kurz vor dem Abitur wurde unsere Klasse
zu einer Tagung eingeladen, vom "Kuratorium
unteilbares Deutschland". Unheilbares,
schrieb ich auf ein Stück Papier und
schmiß es verschämt wieder weg.
Ein CDU-Mann aus Berlin sollte eine Rede halten.
Bevor er anfing, flüsterte er zum Tagungsleiter:
Keine Sorge, Kiesinger und ich haben schon ganze Säle
von diesen Army-Jacken niedergemacht.
Richtig, inzwischen waren die Nazis ja nicht nur Berater
und Bosse, sondern sogar schon Kanzler geworden.
Kam'raden, guten App'tit! Zack!
Meine Freiheit wurde immer sicherer.
War das alles wirklich nötig? Mir wurde die Sache langsam peinlich.
Während meines Studiums wurde von meinen radikalsten
Beschützern erlassen, daß keiner in den öffentlichen
Dienst darf, der das Grundgesetz verwirklichen will.
Das war nur konsequent, hatten doch Befragungen bei
unserem Freund und Hauptverbündeten USA ergeben,
daß über 90 % der Amis den Text ihrer Unabhängigkeits-
erklärung für kommunistische Propaganda halten.
Klasse, dachte ich, ein paar Konkurrenten weniger
im Kampf um die knappen Lehrerstellen,
und gleichzeitig mehr Lebensqualität für mich!
Schließlich wimmelt es jetzt überall von Taxifahrern und
Kneipenbedienungen, mit denen man sich über
mittelalterliche Mystik oder Teilchenphysik unterhalten kann.
Dieser Staat sichert nicht nur meine Freiheit,
sondern auch noch meine Freizeit! Einfach Klasse!
Aber das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.
Wie das Leben so spielt, ich bin Dichter geworden.
Die Söhne von Ärzten sind wieder Ärzte,
manche haben die Wartezeit, in der ihnen Papi einen
Studienplatz freikaufte, für eine Banklehre genutzt,
das paßt ja gut zusammen.
Arbeiterkinder hatten wir kaum in unserer Klasse.
Wenn, dann sind sie Berufssoldaten geworden oder Pastoren,
die einzigen fast krisensicheren Aufstiegsmöglichkeiten.
Mir ist so sicher ums Herz. Spätestens seit es den
Paragraphen gibt, der die Aufforderung zur Gewalt
unter Strafe stellt. Alles hat seine Grenzen,
die gesicherte Freiheit immer noch am liebsten die von 1939.
Das Loch, das der Staatsschutz ins Gefängnis von
Celle gesprengt hat, ist ein bleibendes Symbol
für die Phantasie der politischen Führung.
Terroristen, die keine sind, brechen aus,
um Sympathisanten, die keine mehr sein wollen,
zu Terroristen zu machen. Da weiß man, woran man ist.
Ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser,
meine Manuskripte sind maschinenlesbar,
Rudi Völlers Granaten gehen ins Netz,
neue Kernkraftwerke gehen ans Netz,
ich aale mich im Schleppnetz.
Der gläserne Bürger! Welch eine Poesie
in diesem Ausdruck, das könnte glatt von mir sein.
Meine Freiheit ist sicher. Bombensicher.
Aber das wäre doch alles
wirklich nicht nötig gewesen.

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