Cover des Buches "Heimatfront"

1997

Kilians Pendel

Lange nichts mehr von Kilian gehört.
Zur Zeit pendelt er viel. Mal guckt er sich in Duisburg
Les Misérables an, die Elenden, aber er wäre nicht Kilian,
wenn er sich für ein Musical interessierte. Nein,
er betritt nicht einmal das Foyer des Theaters,
er guckt sich einfach an, was draußen so real vorbeiläuft.
Und mal treibt er sich in Nordkorea rum,
dem wirklich letzten Land auf der Welt, das ums Verrecken
nicht so sein will wie Amerika. China? Kuba?
Längst angekränkelt. Und fahr mal nach Vietnam in Urlaub!
»Miss Saigon Loves U.S. Marines« als Aufkleber an jeder Rikscha.
Kilian arbeitet in Nordkorea als PR-Berater des Neuen Großen Führers.
Er vermarktet den Eins-zu-Null-Sieg Nordkoreas gegen Italien
bei der Fußballweltmeisterschaft 1966 in England.
In Nordkorea gehen die Uhren etwas anders,
und außerdem war es der einzige nennenswerte sportliche Erfolg dieses
kleinen unbeugsamen Landes, wenngleich sie die Vorrunde
nicht überstanden haben. Abends beim Reiswein in Pjöngjang
trifft er deutsche Neonazis, denen gefällt es hier.
Alles sauber, alles auf zack. Sie erzählen ihm
von einem deutschen Kabarettisten, einem gewissen
Golem oder so, der Witze über Autos mit Innenraumvergasung macht.
Das halten sie für ein interessantes Konzept,
und die Lacher haben sie sich gleich notiert.
Eigentlich sehen diese Jungen alle aus wie schwule englische Popstars,
die von ihren alleinfortpflanzenden Müttern absichtlich in
Waschsalons vergessen wurden. Manche kamen durch,
manche begingen Selbstmord unter Trockenhauben mit
Ambient-Techno-Berieselung. Ich bin ein Mensch,
bei dem keine Meßinstrumente funktionieren, denkt Kilian,
und da hat er recht. Sobald er sich einem Thermometer nähert,
wird er unsicher. Eisprung? Hammelsprung?
Quantensprung?
Armbanduhren, die die korrekte Zeit anzeigen? Selten so gelacht.
Uhrzeit vielleicht, mit Glück, purer Zufall, aber welches Jahr?
Welches Jahrhundert? Welcher Planet?
Kilian, der Schrecken aller Statistiken.
Sobald er unbehelligt über einen israelischen Marktplatz schlendert,
beißt ein Hamas-Rambo verbittert in seinen Zünder.
Er braucht nur an der Bundesanstalt für Arbeit vorbeizuspazieren,
schon macht Jagodas Registrierkasse ein leises »Ping«:
5 Millionen und ein Arbeitsloser!
Kilian der Nichtwähler, der Stimmungsdemokrat,
der Frauenbeauftragtenbeauftragte, Kilian im Bistro:
Der Dandy ohne Handy. So ist er. Sein Pendel hat immer Ausschlag.
Er cremt es regelmäßig ein, aber es hilft nichts.
Was soll man machen. Man kann ja auch nicht mit Fäustlingen rauchen.
Das Leben geht weiter.

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