Cover des Buches "Deutsche Wertarbeit"

1984

Gebet

Gott
ich nenne dich nicht Herr und auch nicht Vater
denn mit beiden Ausdrücken verbinde ich
vorwiegend unangenehme Erinnerungen
also Gott
ich spreche
ich spreche nicht MIT DIR
denn ich weiß ja, daß du nicht antwortest
ich spreche ins Leere
oder auch nicht
es hat dir gefallen, daß wir das Beten nennen
also gut, ich bete
und unterstelle einfach mal, daß es dich gibt
und daß du alles hörst
und so weiter, du weißt schon
lieber Gott
das meine ich nicht kindlich
obwohl dir sowas ja gefallen soll
sondern eher wie eine Brief-Anrede
also lieber Gott
du, oder besser: du und dein Sohn,
ihr seid die wahren Erfinder des Anrufbeantworters
man spricht, fragt, fleht
und alles, was man hört, ist die Aufforderung:
wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen,
dann sprechen Sie bitte
JETZT
wir rufen Sie zurück
Pustekuchen
lieber Gott, ich weiß, wir sind auf Sendung
kein Playback
und das Blut fließt immer weiter, auch wenn man
alle Apparate abstellt
ich will damit nicht sagen, daß wir uns plötzlich
alle wieder nackt ausziehen sollten
das liefe ja auch nur auf eine globale Peep-Show
im Angesicht des Alls hinaus
und außerdem hat man sich an das Jucken der Feigenblätter im
Schritt schon richtig gewöhnt und wir haben schließlich
mittlerweise die Intimhygiene erfunden
lieber Gott, nur eine Bitte:
überlaß uns weiterhin, und in unbeugsamer Abstinenz,
alles, was FUNKTIONIERT, das Böse und das Gute,
dann kriegen wir das auch wieder hin,
verlaß nicht vorzeitig die Vorstellung, dreh nicht in diesem
entscheidenden Akt die Lichter aus,
wir haben Termine, du hast Zeit
lieber Gott, ich nenne dich nicht Vater und nicht Herr
wenn es dich gibt, dann mußt du etwas so anderes sein,
daß beim Versuch, das auszusprechen,
die Zunge am Gaumen zerbimmelt
lieber Gott, sei nicht so wie wir
sei vollkommen
machtlos
amen.

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