Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Die Dreißig

ALSO ICH GEHE JEDENFALLS NICHT
auf die Dreißig zu! Höchstens umgekehrt.
Fortwährend unverschämter stellt sich die Frage,
woher schon wieder einen schwarzen
Anzug leihen? Schwadronenweise pflanzen sich
die Kumpanen fort, verkehrsberuhigt,
überall sabbernde, klitzekleine,
altkluge Kybernetiker.
Man selbst greift zusehends öfter zur Schippe,
in schiefer Haltung, vor dunklen Gruben.
Wenn Schnee in weichen Flocken fällt,
leise und langsam, beginnt hinten im Kopf
eine Schwere zu schwafeln, torkelnder, müder,
böser als jedes durchsoffene Nocturno.
Memento mori, denkt an die Neger.
Der abgehalfterte Altnarziß
guckt skeptisch auf die Kaffeeoberfläche,
längst leitet sich jedes Erkenntnisinteresse
ab aus dem Kalorienbewußtsein, zwei sprudelnde
Süßstoffkapseln markieren die Eckwerte
seines Grinsens. Das Einschlafen morgens
ebenso unvorstellbar wie das Aufwachen mittags.
Daß es dennoch geschieht, mit Ach und Krach,
stellt weniger ein Gelingen dar; es muß sich vielmehr
um eine Naturgesetzeslücke handeln, mit deren
Schließung man täglich zu rechnen hat.
Im Wachzustand dasitzen, ohne daß etwas
klingelt und flimmert? Never.
Und was das Reisen betrifft, Kopernikus muß sich
geirrt haben. Die Erde ist eindeutig
eine Bandscheibe. Das Reisen macht blind.
Nach fünf Tagen Flugangst glaubt man nicht mehr,
daß jemand eine Heimat hat.
Mit Dreißig wäre dann nicht mal mehr ausgemacht,
ob außerhalb des Blickfelds noch
ein Stein auf dem andern steht.

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