Cover des Buches "Nicht daß ich wüßte"

1995

Von der Freudlosigkeit unserer Leichenbestatter

Vor zehn Jahren, als meine Großmutter starb, sagte mir ein Leichenbestatter mit vor Würde glänzendem Gesicht: Ich liebe meinen Beruf. Schon damals muß er mit dieser Einstellung einer der Letzten gewesen sein. Heute fahren er und seine Kollegen in ihren silbernen, nicht mehr schwarzen, Limousinen so beiläufig durch die Vorstädte, daß man sich gar nicht sicher sein kann, sie wirklich gesehen zu haben. Unsere Leichenbestatter leben in einer Zwischenzeit: Getrauert wird nicht mehr, aber noch freut sich keiner über das Ableben seiner Mitmenschen, wenigstens nicht öffentlich. Aber das kommt bestimmt bald, und ob man dann noch Leichenbestatter braucht oder die Dahingeschiedenen gleich selbst recycelt, eingräbt oder ißt, ist äußerst fraglich. Volle Beschleunigung! Mit 25 bin ich so deprimiert wie meine Vorfahren mit 45, alles Entscheidende ist passiert, einen Krieg werde ich auch nicht mehr erleben, denn wenn einer kommt, bleibt zum Erleben keine Zeit, die Freunde treiben auseinander wie Bruchstücke eines explodierenden Raumschiffs, man streichelt stirnrunzelnd seine Frau und winselt auf dem Klo vor Einsamkeit. Man hat sogar schon gelernt, ohne Rücksicht auf das Telefon in die Badewanne zu gehen, jeder lernt das mit der Zeit, wenn es jahrelang überhaupt nicht läutet, oder dauernd. Schaumbad, Kreuzworträtsel und ein kaltes Bier sowie das klare, bittere Bewußtsein, daß das keine Gleichnisse sind für etwas anderes, für die Liebe etwa. Ach, die Liebe. Wenn ich irgendwo an einem Schalter stehe und bezahlen muß, schiebe ich meine Handkante immer quer über das Paßbild in meinem Portemonnaie. Niemand soll sehen: Wer gegen Wen. Ich mag unsere Wohnung, besonders wenn du nicht da bist. Dann stelle ich mich in den Durchzug, schmiere mir Kräuterbalsam auf die Nasenflügel und atme, atme... eine kühle Empfindung wie aus verwunschener Ferne, und eine gleichgültige Stimme sagt im Gehirn: Geh weg. Oder bleib. Mach was du willst. Und wenn die Leichenbestatter das dereinst einzusehen beginnen, wird nicht einmal dieser Job noch krisensicher sein.

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