Cover des Buches "Papierkrieg"

1986

Staatsbürgerkunde

Wissen Sie, sagt der alte Mann,
ich habe so lange auf dem Klo gesessen,
daß die Abdrücke meiner Ellenbögen auf den Oberschenkeln
gar nicht mehr weggehen. Dabei habe ich über einiges nachgedacht.
Kennen Sie zum Beispiel das doppelte Erschrecken?
Erst das Erschrecken beim Knacken in der Leitung,
dann das Erschrecken über dieses Erschrecken.
Wissen Sie, ich wohne in einer ruhigen Gegend.
Da fahren nur Leute vorbei, die da wohnen oder Besuche machen.
Und neuerdings ist es mir komischerweise nicht mehr gleichgültig,
wenn ich Limousinen sehe mit mehreren Männern drin,
die kurz anhalten vor meinem Haus und dann weiterfahren.
Das erinnert mich an was. Und mein Sohn, den Tennisschläger
unterm Arm, sagt dann immer: Du spinnst.
Da stimmt doch was nicht! Was sind denn das für Söhne,
frage ich Sie, die ihre Väter abwiegeln?
Und dann dieser neue Personalausweis. Fälschungssicher.
Unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte, daß ich nicht lache.
Wissen Sie, ich war Datenverarbeiter. Ich weiß, was läuft.
Wer sagt mir denn, daß da nicht was drauf ist,
was sogar noch im Weltraum in irgendeinem Eurosatelliten aufleuchtet? Etwa der Bundesbeauftrage für Datenschutz?
Allein der Titel klingt doch wie «Generalinspekteur für
zivilen Ungehorsam»! Ein gestochen scharfes Bewegungsbild
von mir? Nein danke! Das ist ja schlimmer, als wenn ich ständig Mehl verstreuen würde beim Gehen! Schnitzeljagd mit mir
als Schnitzel, so weit kommt's noch!
Wissen Sie, sagt der alte Mann, der nächste Schritt ist ein
kleiner, unauffälliger Eingriff in die Legebatterien, die sie
Kreißsäle nennen. Die Mutter ist noch ausgeknockt, und zack!
schieben sie dem Baby einen Mikrochip unter die Haut,
der sein ganzes Leben lang in irgendeiner Zentrale piept
wie die neue häßliche Armbanduhr, die mir meine Schwiegertochter zur Pensionierung geschenkt hat.
Mein Kumpel, der Kurt, der sagt auch immer, daß ich spinne.
Der streckt die Brust raus und blökt: Wieso?
Her mit den neuen Dingern! Ich habe schließlich nichts zu
verbergen! Wissen Sie, was ich dem sage?
Schämen sollte sich jeder, der so gesehen nichts zu verbergen hat!
Da erste was ich mache, wenn ich die Hundemarke kriege:
Ich gehe zu Egon, der hat einen Grill an der Ecke.
Und dann sag ich: Egon, schieb mal eben dieses Ding in die Röhre!
Was immer da auch drauf sein mag – dann nicht mehr!
Wissen Sie, sagt der alte Mann,
meine Kinder sind erwachsen, die fühlen sich wohl hier,
das ist ihre Sache. Manchmal glaube ich, die kriegen sogar
im Schlaf ihre Mundwinkel nicht mehr runter, vom dauernden
Grinsen. Aber ich, ich muß mir jetzt endlich erlauben
das zu werden, was ich schon lange hätte werden sollen:
Rabiat.

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