Cover des Buches "Deutsche Wertarbeit"

1984

Nachtmenschen

Hinter meinen Augen so viel mögliche Musik,
nichts davon dringt an die Oberfläche meines Fleisches.
Ich kam zur Welt wie die Jungfrau zum Kinde.
Beeil dich, Liebling, es wird höchste Neuzeit,
sie warten schon, gesenkten Hauptes,
mit hocherhobenem Sekt, wie anstößig
diese Stunde noch sein wird, entscheide einst
der Chronist, sollte es ihn noch geben.
Wir werden also beisammen sein, das heißt,
voreinanderstehen, umeinander herum, bedacht darauf,
daß keiner den Rücken zur Wand bekommt, einer
alten Überlieferung zufolge soll das wärmen.
Wir werden reden, werden trinken, bis der dumpfe
purpurrote Samt sich auf die Augen legt,
wir sind Nachtmenschen, immer gewesen,
und stammeln doch seit der ersten Silbenverdopplung als Säugling
vom Licht... Oberseminar, meine Herren! Ex und
hopp, da sitzen Hegels Eulen der Minerva
locker auf unseren Schultern, flappen mit den Flügeln
und hören Elvis im Walk-Man,
wir verstehen das,
je älter wir werden, desto inniger hören auch wir
Elvis, den King.
Dies Eingeständnis ist dann meistens das Letzte,
was uns noch klar von den Lippen kommt,
danach beginnen die Unterstellungen
– Verzeihung: Entstellungen, sollte ich sagen,
die Nacht ist ein langer Ritt, der Heimweg
eine sanierte Prärie, dein Blick, mein Liebling,
einer der ewigen Jagdgründe.
Wir trinken weiter, insgeheim wieder
wie immer vergeblich hoffend, daß endlich einer
Kaffeekochen geht, diesen lehmigen im Blechnapf von John Wayne.
Immerhin machen wir einander nichts vor,
keiner weiß, wie es weitergeht,
wir brauchen uns auch unsern einen gemeinsamen Alptraum
nicht länger zu beichten, wir wissen alle, wie das ist,
morgens die Augenlider durch die Lähmung der Angst zu rammen,
gerade noch haben sie geklopft, du hast
geöffnet, "Sind Sie der moderne Mensch?"
haben sie gefragt, du hast "Ich weiß es nicht"
gesagt, nach einigem
Zögern, der Wahrheit
gemäß, das war
schon Grund
genug für
sie

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