Cover des Buches "Heimatfront"

1997

Der Mönch mit den Lippen von Nina Ruge

Jeder Mensch ist genau das, wonach er aussieht.
Die Mandeln sind der Sitz der Seele.
Aber jeweils nur eine Mandel.
Deswegen sind Mandelentzündungen so gefährlich,
und ihre operative Entfernung, die heutzutage
ja geradezu gang und gäbe ist, stellt den Menschen
außerhalb der Schöpfung, amputiert, gesund,
ein Automat. Da gibt es gar kein Vertun.
Früher war alles schwarz-weiß.
Das Fernsehen sagt, und nicht nur in dieser Frage,
die Wahrheit. Ich werfe meinen Slip auf meinen Schatten.
Wo immer ich gehe und stehe, flimmern vor meinen Augen
von unten nach oben die Namen sämtlicher Gestorbener,
wie in einem Film-Abspann.
Wenn sie so schnell laufen, daß ich sie nicht lesen kann,
waren es böse Menschen. Das kommt seltener vor,
als manch einer glauben mag.
Die Nacht existiert nicht.
Sie ist nichts als die in regelmäßigen Abständen
aufscheinende Illusion eines gewissermaßen gewendeten
Pullovers der vierten Dimension.
Noch niemand hat die erogenste Zone des menschlichen
Körpers entdeckt, die Nordwestpassage, die Kernschmelze,
deren bloße Berührung auch den orgiastischsten
bisher bekannten Orgasmus als bloßen Niesreiz dastehen ließe.
Meine Handschrift verschlechtert sich in einem unbegreiflichen
Ausmaß und Tempo. Eigentlich müßte ich neben jedes
geschriebene Wort eines der Erklärung setzen,
aber das ist hoffnungslos, dazu kommt es erst gar nicht,
es gelingt mir ja nicht einmal ein Buchstabe,
ein Aufstrich, ein Komma, gar nichts anderes
bleibt mir übrig, als mir alles zu merken,
alles, alles, ich hocke wie ein Mönch
auf fühllos gewordenen Beinen
und sage mir unentwegt alles
vor, was ich weiß, mit starr
geradeaus gerichtetem Blick
auf eine Welt aus leerem
weißem Papier.

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