Cover des Buches "Papierkrieg"

1986

Liebesbrief

Liebe Inge
diesen Brief habe ich dir gar nicht geschrieben
hier käme man auch gar nicht dazu
genausowenig wie zum Lesen
zwar kaufe ich mir manchmal Zeitungen
aber nur um mir die nackten Frauen anzusehen
die auch in unverdächtigen Magazinen zu sehen sind
und so oft ich sie mir auch anschaue
händeringend Inge
sie bleiben mir nicht im Gedächtnis
denn daneben sind immer gleich Fotos
von DDR-Außenhandelsexperten
und die sehen so aus daß man alle nackten Frauen dieser Erde
für frei erfunden hält
Inge ich betrachte die nackten Frauen
bis die Textspalten sich über die Po-Backen schieben
schließlich sehe ich nur noch Pfirsichformen
beklebt mit Enthüllungen
und kurz darauf schlafe ich ein
Inge du hast mir fünf Präservative
in den Kulturbeutel gesteckt
mit der gleichen Fürsorge mit der du ansonsten
selbstverständlich meine Wäsche wäschst
Ich habe mit dem Gedanken gespielt sie zu benutzen
oder sie einfach nur wegzuwerfen
um nach Hause zu kommen und den Anschein zu erwecken
als käme ich ohne dich aus
die Hotelbetten bringen mich um
du weißt wie ungeschickt ich bin
ich würde eine Woche brauchen um herauszufinden
was man an ihnen verstellen kann
aber bis dahin sind wir längst woanders
im Schlaf bellen Hunde die mich niemals kennenlernen wollen
unsere Arbeit ist wie ein Gedicht das beim Schreiben schief wird
und gerade dadurch den Leuten gefällt
damit wenigstens ein Geruch zu mir gehört
schmiere ich mir ständig die Schläfen ein
mit Tiger-Balsam
aber ohne dich Inge bin ich
ein gläserner Elefant
liebe Inge
dies ist zwar kein Brief geworden
aber ich muß dich unbedingt morgen am Telefon fragen
wo du meine Hautschere hingesteckt hast
und dir sagen
daß ich dich
liebe
Inge
diesen Brief habe ich dir nicht geschrieben
hier käme man auch gar nicht dazu

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