Titelseite von "Mücken und Elefanten"

1992

Kulturgeschichte der Brille

Sonntagabend, 19 Uhr 30 im ZDF:
Die Kulturgeschichte der Brille.
Die Brille sei so wichtig wie die Schrift, heißt es,
da die Augen der meisten zum Erkennen nicht taugten.
Triumph einer Sehnsucht wie der Sehnsucht nach dem Fliegen,
heißt es.
Den Stahlarbeiter schützt sie vor dem Feuer,
den Wettkampfschwimmer vor dem Wasser.
Dem Leser schärft sie Verschwommenes,
dem Spanner Verschärftes.
Dann endlich, kurz vor acht,
kurz vor dem Umschalten zur Tagesschau:
Die Brille in Helmform.
Raubritter, Eishockeyspieler, Polizeihundertschaften.
Vier Helmbrillenträger schleifen einen weichgedroschenen Blonden
den Wackersdorfer Bauzaun entlang.
Sekundenlang sein mutiges, geschundenes Gesicht:
Keine Brille, nur Blut, und ein aufgerissener Mund
wie bei erstickenden Fischen.
Kurz bevor Woody Allen im Kino
von uniformierten Muskelbergen zerquetscht werden sollte,
lächelte er wie der ewig abgeholte Jude,
nahm seine Brille ab und
zertrat sie lieber gleich selbst.
Triumph einer Sehnsucht,
so wichtig wie die Schrift.
Da die Augen der meisten
zum Erkennen nicht taugten.

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