Titelseite von "Nicht daß ich wüßte"

1995

Vorwort von Olaf Leitner

Schon dieser Buchtitel ist hinterhältig: »Nicht daß ich wüßte meint so larifari, ich weiß nicht. Die Möglichkeit, doch zu wissen, ist offengehalten. Eine eher beiläufige Bemerkung. Herausgehoben, aus trivialen Zusammenhängen gerissen, einem Buch vorangestellt, meint es dann schon mehr: Nicht, daß ich etwas wissen könnte (über diese Welt) – ich reime mir aber einiges zusammen. Und das ist hiermit zur Kenntnis zu nehmen. Gemeint ist vermutlich: »Nicht daß ich nicht wüßte«. Er steckt uns also gleich ein Irrlicht auf, dieser Kunze, und fordert uns in die Schranken einer mehr neugierig als bange machenden Ungewißheit. Sein Golem aus Lemgo etwa ist ein nicht nur verbaler Geniestreich aus eben jener Trickkiste. Ein Kalauer, der so gut ist, daß man den Kalauer nicht merkt, eine seiner knappsten, pointiertesten, also exakt auf den Punkt gebrachten Chiffren für seine Weltsicht: Golem-Lemgo – das Nachtschattengewächs sozusagen in der Fußgängerzone, das Mystische trifft das Banale. Das eine jeweils im anderen zu entdecken ist einiges von dem, was wir lernen werden.

Lieder und Texte 1992-1995, Kunze bilanziert zum vierten Mal, und manches, was hier zu lesen ist, findet sich auf keiner LP/CD. Und dies hier eben ist ein Buch. Das gibt uns das Recht, die Texte ohne Anhören der Musik zu goutieren, sie als Prosa und Poesie festzuzurren. Liedtext oder Lyrik sind also hier nicht eindeutig positionierbar. Mithin erheben wir Kunze für die Dauer dieses Buches ausschließlich zum Lyriker, zum Dichter. Was Kunze im richtigen Leben von einem Dichter unterscheidet ist nur, daß er singt. Sänger gelten hierzulande als nicht heilig, mithin als nicht kulturgemäß. Aber: Was macht man nun mit so einem, der ja gar kein Dichter sein will, weil er ein Rockmusiker ist, der sich allenfalls noch als Singer/Songwriter durchgehen läßt und ohnehin all diese Begriffe haßt, weil er eben nur einer sein will, nämlich Heinz Rudolf Kunze? Ein hinlänglich in Erscheinung tretender Musical-Übersetzer (Miss Saigon), Kabarettist, Hobby-Journalist, Gitarrist, Pianist, Sänger, Komponist, Essayist (was bleibt denn da übrig?!). Nun, könnte man sagen, laßt ihn in Gottes oder Dreiteufels Namen sein, was er sein will. Aber so einfach ist die Sache hierzulande nicht. Denn auf den Stufen der kulturellen Ehrbarkeit siedeln die Rocker noch immer weit unten, sie schmausen (zuweilen gar von vollen Tellern) am Katzentisch gesellschaftlicher Reputationssucht. Obwohl Paul McCartney längst zum erfolgreichsten Komponisten reifte und, so würde HRK ergänzen, Bob Dylan wohl zum wichtigsten zeitgenössischen Poeten der USA wurde. Damit aber säße HRK in der eigenen Falle, denn er müßte, auch ihn selbst betreffend, ein Wahrnehmungsdefizit der Kulturmanager diagnostizieren. Das alte Regelwerk, Kunst zu jonglieren, greift längst nicht mehr (hat es denn je?), aber an den herkömmlichen Latten wird noch gemessen. Und so wie die Einnahmen eines gehobenen Kapellmeisters in philharmonischen Gefilden gelegentlich das Salär eines Bundeskanzlers überschreiten, so gilt der Poet ohne Gitarre mehr als der mit. Der eine darf Dichter sein, der andere nur Popmusiker. Eine (haken wir den modischen Begriff gleich ab) Vernetzung gleichbewerteter Kunst- und Kulturereignisse zu einer allumfassenden Multikulti-Gemeinsamkeit findet nicht statt. Man bröselt vielmehr autistisch in tapfer verteidigten Selbstbehauptungsnischen des Kulturbetriebes. Das hat Folgen: Einen Beleg dafür, daß sich die Genres dem Maßstab beugen, den man ihnen verordnet, gab Kunze in einem brillanten Essay (»Grammatik der Gehörlosen«) zu Beginn der 80er Jahre. Der deutsche Rock-Journalismus, schrieb Kunze, ist eine veraltete Kopie des britischen, »oft genug jedoch deliriert er an der Lallgrenze, als Ausdruck sprachlicher Barbarei, sachlicher Inkompetenz und emotionaler Armut«. Er trägt »zur wachsenden Schwerhörigkeit im Lande« bei. So sitzt Kunze nach dem platten Konsens kultureller Klassifizierungsparameter in der falschen Schublade. Er war und ist keiner von denen, die durch »völkermordtaugliche Schlagertexte« und Ruckzuck-Rhythmen zur akustischen Umweltverschmutzung beitragen wollen. Entsprechend wollte er sich und seinesgleichen anders bewertet wissen. Ein flott hingeworfenes »Alter, diese geile Scheibe mußte dir mal in der Badewanne reinziehen«, eine in leichten Varianten noch immer übliche Floskel sich als kompetent spreizender Rezensenten, entsprach/entspricht nicht einer von Kunze bevorzugten Ausdrucksweise. Seine Analyse der deutschen Rock-Kritik aber war, so dürfen wir unterstellen, folgenlos: Man hat sie einfach nicht verstanden. Das Schmalspurbewußtsein der Attackierten scheiterte in dem Bemühen, die Anwürfe zu dechiffrieren. Und so blieb dann mehr oder weniger alles beim Alten.

Doch es lauern noch andere Mißverständnisse: Man hat herausgefunden, Kunze sei gebildet, habe eine intellektuelle Grundausstattung als Mitgift beizusteuern. Rock'n'Roll aber ist schmutzig, lautete ein Gründerzeit-Beschluß, er verträgt sich nicht mit dem großen Latinum oder Adorno-Exegesen. Und so will manch ein Rezensent den Kunze »dahin zurückschreiben, wo er hingehört«, den Primus, in die Klientel der Ärzte, Architekten und Anwälte. Was ihn nicht ab-, jenen Klüngel aber aufwertet. Man gönne dem Kunze als Rockstar sein Publikum; aus der »Szene«, besser: der »scene«, mag man ihn lieber heraushalten. Da werden Leute wie er schlecht behandelt. Das Bild Kunze hängt jeweils in einem falschen Rahmen.

Doch lassen wir das Lamentieren und nutzen wir die Taktik derer, die ihn mißverstehen, instrumentralisieren wir ihn für etwas, das vonnöten ist – als Waffe gegen die Bilderflut. Im TV-Zeitalter, in der Ära der Hochglanzblätter und Datenautobahnen ersticken wir in Ablichtungen aller Art. Nur in einem Bereich haben sie uns verlassen – in dem der Sprache. Das ist wie die Sache mit dem Schiffbrüchigen, der sonnengedörrt und trockenen Mundes auf dem Meer treibt – es gibt Wasser im Überfluß, aber es stillt nicht den Durst. So dürsten wir nach Metaphern und Symbolen, wo, wie in unserer Pop- und Rockmusik, vorwiegend nur mit Nomen und Verben gesungen wird, dekoriert allenfalls mit abgegriffenen Attributen: »Da ging er traurig, da kam sie leise, da meinte er zärtlich, da weinte sie ...«

Bilder hingegen erregen, verstören, sie rutschen zwischen die Zeilen und sagen das Wesentliche. Bilder machen Texte sinnlich. Erst Bilder machen Wörter zu Worten. Da verwirren anfangs noch Zeilen wie diese: »In meinem treuen Lämmerherz zittern vergiftete Pfeile«. Da schiebt einer »ne ruhige Kugel und schießt sie sich eines Tages in den Kopf«. Das ist spaßig, da nimmt er eine Metapher wörtlich und läßt eine neue entstehen. Aber das sind einige von Kunzes leichtesten Übungen. Fortgeschrittenen ist etwas wie dies zuzumuten: »Da sind Risse im Tee. Eine Schmauchspur auf der Lippe. Ohne mir ein Wort zu sagen. Dann geht alles wie von selbst. Für jedes Lächeln einen Biß. Die Überwindung der Musik. Angst wie schlecht geschälte Affen.« (Die Zeit läuft) Wieder die Golems in Lemgo. Das Unbekannte im Vertrauten. Oder: »Aus heit'rem Himmel fällt die Hölle«. Das lyrische hard core-Angebot harrt noch der Entdeckung – einige Seiten weiter.

Versuchen wir, ihm auf die Schliche zu kommen. Gern geht er verschlungene Wege, wenn er über sich selbst sprechen will. Einem Essay über die britischen Popmusiker Ray Davies und die Kinks stellte HRK ein Zitat von Charles Dickens voran: »Es ist wohl meine Schwäche, nicht allgemein in die Augen fallende Beziehungen der Dinge zu sehen oder sie mir einzubilden. Auch ich habe solche unaussprechlichen Vergnügungen an dem, was ich in einem komischen Licht sehe, daß ich es hätschele, als sei es ein verzogenes Kind. Weiter habe ich nichts vorzubringen, um einer Kritik zu begegnen.« Das ist ein Plädoyer für ungehemmte Subjektivität. Denn die allgemeine Wahrheit erweist sich als Lüge, wahr ist für Kunze nur, was individuell geradegerückt, was eigen-sinnig manipuliert wurde. Seine Methode: Die Dinge sinnentstellend aus dem Zusammenhang reißen, Realitäten verkuppeln, die dazu nicht ihr Ja-Wort geben wollen. Die Kombination von bekannten Begriffen und Bildern in unbekannten Gefilden zu neuen Gegenwartsdeutungen.

Worüber schreibt er also?

Die deutsche Gegenwart (z. B. So) wird dingfest gemacht, ein Zustandsprotokoll ohne political correctness, aber dafür sozial-politisch korrekt. Der deutsche Alltag mit seinen Biertaktmotoren, Blutgerümpel und seiner Beugehaft vorm Fernsehschirm. Mit all seiner Getrenntentsorgung, den Verbundwertstoffen und der Kraftverkehrsteilnehmerzelle – da fällt Kunze noch Ergänzendes ein: mit seinen »Parklückenkriegern, Nabeldreckbohrern, Sozialstaatswallachen, Mehrheitsbeschaffungskriminellen, Wahlurnenzombies (in Fetter alter Hippie) – »Lieber Gott, gib, daß meine Frau nicht ins Wohnzimmer kommt, wenn eine meiner Platten mit Neuer Musik läuft.« Das Stoßgebet als Bankrotterklärung einer Lemmingsgesellschaft: »Wir rennen um die Wette ins Verderben.« Der Zeitgeist am Tropf der Fernsehwerbung: »An meine Haut lasse ich nur Feuerwaser und CD's.« Punktum.

Und die Kirche: Als Bundeskanzler würde er sie trennen wollen vom Staat, »um da was Flaues loszuwerden, um der Kirche wieder auf die Füße zu helfen, die dann wirlich stehen, damit sich nur noch die Leute in der Kirche engagieren und was von ihr wollen, die wirklich damit was zu tun haben«. Sagt Kunzes alter ego Kilian: »Aber was ist mit meinem Haß auf Leute (...) mit Autoaufklebern wie ICH GEHÖRE ZU GOTTES BODENPERSONAL? Denen möchte ich gleich die Landebahn zerbomben!« Aber als erste Amtshandlung des Bundeskanzlers Kunze würde der »eine stalinistische Maßnahme zur Reinigung der deutschen Musik« ergreifen. Das hätte dann doch Vorrang.

Und die Liebe: Tirami Sue – ein wunderschönes Gedicht zum Thema, es kaschiert seinen Gefühlsüberschwang hinter Fischstäbchen, Fußgängerzonen und Pfarrern, die sich die Beichte abnehmen lassen. Andere wissen mit der Liebe lässiger umzugehen: »Auf die Liebe / auf die Knie / auf die Plätze / Fertig / Los / Super / Super / Super / Super / Und so weiter / Und so weiter / Und so weiter« heißt es in Pop. Für Kunze aber gilt: »Ich habe der Liebe das Blut gestillt – sie dankte mir fuchsteufelswild«.

Ein anderes klassisches Thema: die Eltern. Sich an ihnen zu reiben ist, wie er meint, seit »Gilgamesch« ein ergiebiges Modell. Aber: seine gebrannten Kinder scheuen wenigstens nicht das Feuer.

Manches wird von seinem Publikum angemahnt, zum Beispiel damals in jenen Tagen das Deutsch-Deutsche: »Hast du dazu nix?« Er reagiert auf derartige Anfragen »erst verunsichert, irritiert und dann ärgerlich und dann geht irgendeine Klappe runter, ich bin nicht imstande postwendend ein Lied zum Thema zu erzeugen«. Aber die Lieder kamen und finden sich auf der CD Draufgänger. Ist er ein Tüftler oder einer, dem es herausfließt? HRK: »Beides! Kleine Bröckchen, halbe Sätze, ganze Sätze, Wörter, Strophen. Sie liegen auf einem meiner beiden Schreibtische flächendeckend, dann umkreise ich diesen Schreibtisch, bin wirklich auf der Pirsch, gucke mir diese Brocken immer wieder an, ärgere mich, wenn mir bei einem kein weiterer Zusammenhang einfällt, beim anderen bleibe ich hängen, ergänze was, schmeiße dann irgendwann verbittert diesen ergänzten Brocken weg. Es ist ein geduldiger Jagdvorgang. Mancher Text braucht lange – zwischen anderthalb Stunden und einem Jahr.«

Er ist ein Wort-Spieler: Ihn »interessieren Reibungen und magnetische Felder zwischen Worten, die dann miteinander zu tanzen beginnen. Ich habe auch nie, wenn ich einen Text beginne, einen bestimmten Vorsatz, ich sage nicht, ich will jetzt dieses oder jenes zu einem bestimmten Thema machen, ich fange einfach bei einem bestimmten Wort an und merke beim Fortgang des Schreibens, wovon das Ding handelt. Das klingt seltsam oder kokett, aber es ist wirklich wahr. Ich merke erst beim Vollziehen der Arbeit, was ich da eigentlich mache. Und der Auslöser ist immer ein einzelnes Bild, ein einzelnes Wort oder maximal eine einzelne, kleine Situation. Dann lasse ich mich treiben, ich hoffe, ich lasse mich inzwischen relativ kontrolliert treiben, aber ich laß mich treiben. Und am Ende, wenn ich beim letzten Wort angekommen bin, reib ich mir manchmal die Augen und merke, was ich da eigentlich fabriziert habe. Es gibt auch einfach Sachen im Leben, die kann man mit einer exakten Sprache nicht genau sagen. Es gibt Gefühle, Stimmungen, Zustände, die sind 1:1 nicht ausdrückbar. Und das sind oft die wesentlichen Dinge. Ich denke nicht so wie Wittgenstein mit seinem berühmten Satz, worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen, das halte ich für Quatsch. Ich hab das mal als Student geglaubt, in so einer Phase, als ich von den Logischen Positivisten beeindruckt war, aber das ist Unsinn, es gibt sehr wohl Zustände, über die man nicht genau sprechen kann, aber über die kann man sehr wohl herrlich ungenau, nämlich poetisch, sprechen und trifft es dann manchmal viel genauer als irgendeine wissenschaftliche korrekte Ausdrucksweise es hinkriegen könnte. Manchmal weiß ich erst, wenn es dasteht, was es für eine Absicht hat. Selbst Dylan weiß nicht unbedingt, wer 'Mr. Tambourine-Man' ist – der Tod oder das Leben.«

Das nehmen wir dankbar zur Kenntnis. Denn im Starter-Kit künftiger Lyrik-Konsumenten findet sich die Frage: Was will uns der Dichter damit sagen? Die masochistisch-mühevollen Versuche, das zu deuten, was vorher kunstvoll verschlüsselt wurde, gehören zum Rezeptionsritual. Die Zwischenbilanz gipfelt in der Frage: Was meint er bloß?! Lassen wir Kunze und befragen zwei seiner nichtsingenden Kollegen:

Der Lyriker Uwe Kolbe vom Berliner Prenzlauer Berg sagt: »Man sollte beim Lesen eines Gedichtes seinen Sinnen vertrauen. Wenn man das Gedicht hört, dann ist es zuerst einmal Musik, Klang, eine Melodie – der soll man nachgehen und zwar möglichst mit allen Sinnen und nicht immer dahintergreifen wollen, also sozusagen die Erscheinung des Gedichtes von ihrem Wesen zu trennen versuchen.« Und man sollte nicht sofort nach der »Bedeutung« fragen. Gedichte, meint Kolbe, haben einen Klang, einen Sound »bis hin zum Ohrwurm«. Und das lyrische Spektrum, so Kolbe, reiche von der Rockballade (Bob Dylan gebühre nun mal langsam der Nobelpreis für Literatur!) bis hin zum abgehobensten und hermetischsten Gedicht, das alles ist in diesem Genre möglich. »Jeder Leser geht ja sozusagen im Wald dieser verschiedenen Geräusche spazieren. Die Schwierigkeit besteht wahrscheinlich zunächst darin, überhaupt den Raum zuzulassen für ein Gedicht.« Der Trick, die Spielregel, das Reglement beim Umgang mit Lyrik und auch Prosa ist, sich selbst zu vertrauen. Ein simples, wenngleich selten publiziertes Rezept besteht in der Frage: Was sagt es Dir?

Unser zweiter Zeuge ist Durs Grünbein, Büchnerpreisträger des Jahres 1995. Er deckt zuerst auf: Lyrik ist Romanvermeidung, also Textkonzentrat. Grünbein: »Die Leute in diesen Breiten glauben, daß Lyrik immer noch abstößt, daß Lyrik primär etwas mit Innerlichkeit zu tun habe, mit Sentiment, und viele brauchen sehr lange, um sich daran zu gewöhnen, daß es auch sehr viel mit Analyse, mit Denken zu tun hat und eben mit dem ganzen Reichtum auch anderer geistiger Bereiche.« Da registrieren wir hohnlachend eine Meinungsdifferenz, denken wir an Kunzes Wittgenstein-Bemerkung. Wir lassen sie geflissentlichst unaufgelöst.

Einem Schmäh Hans Magnus Enzensbergers zufolge sind es allenfalls plus/minus 1.354 Menschen, die hierzulande Lyrik kaufen. Blättert man in Kunzes LP/CD-Verkaufsstatistik, sind es erheblich mehr. Sie wissen es nur nicht. Denn die Lyrik gibt es zu den Songs sozusagen als Bonus-Track.

Er macht es uns ja anfänglich leicht, seinen Versen näherzutreten. Denn die Begriffe, die er verwendet, sind uns vertraut. Er ist kein zwanghafter Begriffserfinder, er ist kein Wörterschmied, keiner, der mit Brachialgewalt an der Sprache zisiliert. Listig nutzt er bekanntes Material, baut mit herkömmlichen Substanzen. Das Neue, Originäre entsteht erst beim Bauen selbst. Das Ganze wird mehr als die Summe seiner An-Teile.

Vom Glauben und Zweifeln ist bei ihm die Rede (Gott war eine gute Idee, Jesus schon der Anfang vom Ende«), von der Liebe, von der Sexualität und von beidem: Das rüde Leck mich doch eine Beleidigung? Eine sündhafte Ermunterung? Mußte das sein, Kunze?? – »Es mußte mal sein. Ich konnte es nicht mehr aushalten, dieses deutsche Schlagervokabular, was immer um diesen heißen Brei, oder um das heiße Dreieck herumsingt, wo die Kollegen von der Schmalzgrafenabteilung immer sagen: Ich will dich spüren, deine Wärme berühren. Sollte meine Band mich bei solchen Zeilen ertappen, darf sie mir Klassenkeile geben. Das feige, flaue, irgendwo schummrig-zwinkernde Drumherumsingen... Ich wollte endlich mal etwas Konkretes, Derbes zu diesem Thema äußern, was vielleicht die Leute gerade von mir nicht erwarten würden.« Seine Kopfgeburten laden eben mitunter da, wo Geburten gemeinhin stattfinden – Und was ist mit dem »Die Frau möge senken ihr Angesicht über mir« ??? – »Das ist die blasphemische Liturgie als letzte Form des Glaubens«, sagt Kunze.

Seine Texte als psychotherapeutische Heimarbeit? Kunze will den »Zustand von innerem Unglück, das man nicht an einem Gegner oder an einem Schuldigen festmachen kann, mit Bildern einkreisen«. Das gelänge ihm gelegentlich ganz gut (vgl. »Mein wüstes Herz aus Lava ...« und die Sache mit den Ärmelschonern!) Zur Eigenblut-Therapie gehört auch jener Kilian – das alter ego, sein »Crash Test Dummy, den ich immer dann ins Rennen schicke, wenn ich und nicht ganz Ich etwas aushalten soll, diese Figur ist auch noch nie gestorben, das bedeutet, daß ich sie immer noch brauche«.

Und sein Publikum? »Die größte Gruppe ist zwischen 17 und 30, die zweitgrößte über 30.« Das wäre die Mehrheit. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Also, unumgänglich, die Vorbildfrage. Die vorbildliche Antwort: Rolf Dieter Brinkmann, Karl Kraus, Peter Handke, Botho Strauß. Eckart Henscheid hält er für ein Genie, für eine epochale Begabung. Kunzes »Jahrhundertbuch« stammt von Hans Henny Jahnn: »Fluß ohne Ufer«. Moment mal, Strauß immer noch? »Ja«, sagt Kunze, »ich unterschreib alles, was im 'Bocksgesang' steht. Auch abgehalfterte, sauertöpfische Altlinke müssen Kritik ertragen können. Dieser Essay ist mit Sicherheit kein Manifest der Rechten. Strauß hat immer Unbequemes gesagt und ist unbestechlich.«

Sein Idol aber ist Don Quijote. Bringt uns dieses Faktum auf die Spur zum Kabarettisten Heinz Rudolf Kunze? »Ich setze weiter unten, bei Alltagsdetails an und hebe nicht sofort auf irgendwelche konkreten bösen Buben ab, die in den Schlagzeilen des Tages die Runde machen. Ich gehöre mehr zur Hüsch- und weniger zur Hildebrandt-Schule. Ich bin kein politischer Kabarettist, ich bin ein Phänomenologe. Ich fange wirklich ganz unten bei sinnlichen Wahrnehmungen an und versuche mir da den Alltag zusammenzusetzen und komme da manchmal auch sehr nahe an das heran, was für die Menschen wirklich und existentiell bedrohlich und schön und sinnlich ist. Einfach nur sozusagen mit 'ner Bild-Zeitung auf die Bühne zu gehen und dann zu sagen, haben Sie das schon gehört, was der und der gemacht hat – das ist nicht meine Vorstellung von Kabarett.«

Die gute Nachricht: HRK hat immer recht, aber  dies ist die schlechte – man weiß nicht so recht, warum: »Und nichts ist mehr unmöglich wenn gar nichts mehr verlockt.« Eben. Oder? Über diesen »appellativen Aphorismus« schmunzelt er selber: »Gegenwind macht Flügel«. Bei ihm ist alles »rotz- und wasserdicht«. Die Polgars, Friedells, Tucholskys, Walter Mehrings, Kracauers – sie haben einen Enkel. Und der ist eigentlich nur Rocksänger.

Olaf Leitner

 

Nachbemerkung: Viele Zitate Kunzes, Kolbes und Grünbeins sind Gesprächen entnommen und der Authentizität wegen unbearbeitet geblieben. (O. L.)

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