Cover des Buches "It's All Over Now"

2002

Gebundene Ausgabe, 1999
Alexander Fest Verlag, Berlin
ISBN 3-828600-48-4
14,90 €

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Approved by Heinz Rudolf Kunze

Satelliten 2000

Konrad Heidkamp: "It's All Over Now"

Musik einer Generation, 40 Jahre Rock und Jazz

Das Schlimme ist: Allem Anschein nach hat er ja recht. Die Smiths, Ende der 80er Jahre unzeitig verfrüht aufgelöst, hatten als Letzte das Zeug dazu, eine wirklich bedeutende Band zu werden. Danach? Sicher, Nirvana, Hals über Kopf verzischt. Schweigen wir vom unsäglichen Drittaufguß Britpop. Ansonsten: Heilloser Rückzug ins Stottergestampfe Rap und HipHop oder ins Tanz-KZ Techno. Seit quälend langer Zeit befindet sich das, was einerseits mit Charlie Parker, andererseits mit Elvis begann, in einem Wachkoma, das die Handkesche Einsicht nicht an sich herankommen läßt: Irgendwann merken alle, daß sie ein Spiel spielen, das es gar nicht mehr gibt.

"It's All Over Now" nennt der Musikkritiker Konrad Heidkamp, Jahrgang 1947, seine Sammlung von 19 Aufsätzen, 17 davon Musikerporträts und 2 allgemeiner gehalten, mit der er noch einmal ins rechte Licht setzen will, was ihn an den vergangenen 40 Jahren Klanggeschichte auf- und angeregt hat. Die Jazzer befinden sich gegenüber den Rockern in der Überzahl, dennoch wählt er als Überschrift und Leidmotiv (mit d) den Anfang einer Bob-Dylan-Zeile aus dem Jahr 1965, als dessen Album "Bringing It All Back Home" die Welt, zumindest die Popwelt, veränderte. Für Dylan markierte dieses Lied einen Abschied (des Folksängers), der nahtlos in einen Aufbruch (des Folkrockers) überging, Heidkamp hingegen bleibt mit dem Rest der Zeile als Baby Blue zurück: Ein von unwiederbringlichen Erlebnissen Durchtränkter gewährt den Heutigen Einblick in eine für immer versunkene Welt. Über 300 Seiten Melancholie bis Bitternis, alles mindestens so einsam wie der junge Elvis am Klavier in diesem leeren hellen Raum auf dem Umschlagfoto. Drei unbesetzte Klappstühle lümmeln vor ihm herum: Niemand hört zu. Kein Buch für schwache Nerven. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren CD-Händler.

Das Buch ist – und das verdient heutzutage allemal herausgehobene Erwähnung – schön gemacht. Gutes Papier, Druckfehler bleiben spärlich (der pikanteste wohl die Schreibweise von "Creedance" Clearwater Revival – man konnte und kann zwar hervorragend zu deren Musik tanzen, sie hatten es aber nicht nötig, sich auch noch so zu nennen), die Fotos passen zu dem, wovon die Rede ist, ohne das Gesagte einfach nur zu verdoppeln. Die Auswahl der thematisierten Künstler ist, wie sollte es anders sein, subjektiv, ja eingestandenermaßen willkürlich; bei vielen war offensichtlich ein Konzerterlebnis Heidkamps der Auslöser zum Schreiben, der Anspruch auf Totalität wird nicht erhoben, und das ist, weil nicht einlösbar, gut so. Daß Madonna, Prince und Michael Jackson fehlen, wie er selbst einräumt, schadet der Sache nicht im mindesten, daß er bedauert, Tom Waits, Elvis Costello oder Van Morrison nicht berücksichtigt zu haben, ehrt ihn, so weit so gut, bis hierhin bin ich gern sein Spießgeselle. Sein Lanzenträger wäre ich aber nur geworden, hätte er sich auch in gebührender Ausführlichkeit mit Jimi Hendrix, Pete Townshend, Ray Davies und Frank Zappa befaßt – die fehlen hier unersetzlich für ein Gruppenbild, das sich jeder halbwegs Kundige dann vervollständigen mag.

Laut Klappentext verfolgt Heidkamp zwei Absichten: Über die Würdigung herausragender Musikerpersönlichkeiten hinaus soll auch eine Wirkungsgeschichte ihrer Signalsamen in der bundesdeutschen Ackerfurche erkennbar werden. Dies leistet der erste Aufsatz "So nah, so fern" in hinnehmbarer Genauigkeit, wenngleich alle Bemerkungen über Adenauer-Land, Vespa-Rebellen oder die 80er Jahre als "unübersichtlicher Alltag" den Charakter der Pflichtübung nicht abschütteln können. Wirklich berührt, engagiert, hingerissen ist Heidkamp nur von dem, was ihn höchstselbst erschüttert hat, und vielleicht sollte man auch nur so und nicht im Namen von Vielen über Musik schreiben. Die deutsche Rockmusik jedenfalls schrumpft für den Autor auf die Größe eines Gefrierpunkts zusammen, kaum Fußnoten ist sie ihm wert. Studien über Cans Irmin Schmidt oder Kraftwerks Ralf Hütter hätte er durchaus verantworten können – ohne Quotengewissen.

Die Überzahl der Jazzmusiker in diesem Bilderbogen ist kein Zufall, hier schlägt Heidkamps Herz auf Hochtouren, hier psalmodiert er scharfsichtig und ergriffen: Über Thelonious Monk, den panischen Schneckenhausbewohner, der zum hilflosen Eremiten versteinerte angesichts der eigenen Folgen namens Moderne, über Miles Davis, den Bowie des Jazz (David, versteht sich, nicht Lester), der allerdings eine durch alle Hüllen schimmernde Seele hat: seinen Ton, am Zwingendsten vielleicht über Coltrane und sein "zentriertes Hingerichtetsein aufs Unbedingte"; der Theologe Paul Tillich und sein zumindest noch mit einem Bein irdischer Stellvertreter Joachim Ernst Behrendt lassen grüßen. Coltranes gottsuchende, jeden Kompromiß glühend einschmelzende Hingabe erfüllt wohl am Reinsten, was Heidkamp (und mit ihm zu jeder Zeit immer nur eine Minderheit) von Musik erwartet: "Das Widerständige" nennt er es, das "Ganz Andere", das Karl Barth und Adorno meinten, die erlittene, durchkämpfte und verdiente Rückkehr ins Paradies. Wer so hoch ansetzt und so viel verlangt, gerät in Schwierigkeiten, der Rockmusik vergleichbaren Adel attestieren zu können. Die Beatles reduziert der Autor auf einen ulkigen vorzeitigen Monty-Python-Erguß, die Stones und selbst die nach den Beatles wirkungsmächtigste Band, die Velvet Underground, bleiben ihm merkwürdig blaß, die Sex Pistols referiert er so eilig als "letzten Urknall" herunter, daß man ein Hüsteln zu hören meint, feministisch korrekt fällt er auf die Quotenschlampigkeit einer Patti Smith herein, die von Rimbaud weniger versteht als auf eine New Yorker Toilettenkachel paßt. Summa summarum, Zitat: "1967 hätte die Rockmusik noch die Chance gehabt, zum Jazz des Popzeitalters zu werden." Wer dargestellt lapso modo den Jazz zum Maß aller Dinge macht, hat strenggenommen angesichts der Aufgabenstellung des Buches das Thema verfehlt. Es kommt noch dicker: David Bowie, der Dracula der Uneigentlichkeit, markiert Heidkamps Waterloo als Kritiker. Die Backgroundsängerin Antonia Maass hat "Heroes" mitnichten übersetzt, sondern katastrophal verfehlt; ein Blick in den Langenscheidt hätte Wunder bewirkt. "Und die Scham fiel auf ihrer Seite", zitiert Heidkamp sie, wo es doch bei Bowie heißt: "And the shame was on the other side", also: "Und die Schande war auf der anderen Seite", gemeint waren Mauerschützen, die auf die Liebenden zielten. Hier hat Heidkamp, mit Verlaub, ein Fettnapfbad genommen wie Fritz J. Raddatz im Falle Goethe.

Der Autor ist geschmacklich, und das ist weißgott keine Schande, ein Mann des abgelaufenen Jahrhunderts. Sein Buch belegt, daß für das angebrochene 21. die Umkehrung eines Dylan-Satzes gilt: I've got A LOT to live up to, Ma. Also was nun? Is it really all over now, Baby Blue? Vor diesem harschen Fazit singt Dylan immerhin: Strike another match, go start a new. Man hat Schwierigkeiten, sich diesen Satz nach der Lektüre aus Heidkamps Mund vorzustellen. Man meint eher zu vernehmen: Da kommt nichts mehr.

Ich empfehle dieses Buch. Denn das Schlimmste ist: Allem Anschein nach hat er ja recht. Nun denn, liebe Leser. Werdet geboren.

Widerlegt Heidkamp.

Heinz Rudolf Kunze, Januar 2000

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