Heinz Rudolf Kunze

2006

Ein Abend mit Gleitsichtbrille

Um vor der Seuche zu warnen, hat Heinz Rudolf Kunze die Brille abgenommen und seinen bedrohlichsten Tonfall aufgelegt. Einen Tonfall ähnlich jenem, mit dem Orson Welles in "Krieg der Welten" die Ankunft der Außerirdischen verkündete: "Dies ist eine Warnung! Seht euch vor! Nur einen Moment nicht aufgepaßt, und schon hat sie euch und schon habt ihr sie - Kultur. Sie kann überall sein, sie dringt überall ein..." Recht hat er, die Kultur ist ein zähes Kraut, sie gedeiht sogar in Kaufhausrestaurants. Denn Kunze gastierte mit seiner musikalischen Lesung am Donnerstag nicht in einer Buchhandlung oder einem Theater, sondern im Restaurant von Karstadt in der Hamburger Straße.

Das Vorlesen hat bei Kunze Tradition. Wer seine Konzerte in Erwartung von Gassenhauern wie Finden Sie Mabel besuchte, bekam schon immer auch Sprechtexte zu hören: Lyrisches, absurde bis tiefgründige Prosa, Zynismen, Politisches und Eheszenen, die man seinem besten Feind nicht auf den Hals wünschen möchte. Statt von seiner Band wird Kunze dabei nur von seinem Manager Wolfgang Stute begleitet - auf der Konzertgitarre.

Die Taktik der zweiköpfigen "Unterhaltungsguerilla" (Kunze) ist so schlicht wie wirkungsvoll. Nach zwei mal 45 Minuten Textsperrfeuer schließen sie mit zwei Stücken, "für die auf Tournee mit der Band nie so richtig Platz ist": Hank Williams' "Lost Highway" und dem zarten Möglicherweise ein Walzer, das Kunze für Herman van Veen schrieb. Zuvor hatte Kunze reihenweise Texte und Provokationen aus seinem roten Pappordner abgearbeitet. In atemberaubenden Tempo wechselte er die Charaktere, Situationen, Themen: "Deutschland ist auf dem Weg in den Abgrund! Dieser Text ist nicht lustig. Bitte machen Sie sich Sorgen!" In leichteren Momenten plaudert er mit Elvis über die Schattenseiten des Ruhms und über Gleitsichtbrillen. Oder lamentiert: "Ich habe gestern meine Hose begraben müssen. Es war eine gute Hose. Immer da, wenn ich sie brauchte." Dann überfallen Amok laufende aserbaidschanische Augenhändler ein Altenheim. Ein Wahnwitztempo, "schließlich ist die Wirklichkeit auch kein Ayurvedakurs an der Volkshochschule". Trost inmitten des Irrsinns spendet allein die Verläßlichkeit: "Die ganze Epoche ist auf Speed", seufzt er. "Bloß gut, daß immer noch Helmut Kohl regiert."

Die Welt, 20. Mai 2006

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